Heute vor 20 Jahren erschien The Rising von Bruce Springsteen. Eine Wiederentdeckung.

Warum The Rising die Zeit überdauert hat und noch immer gut ist, mit weniger Songs aber besser sein können. Heute vor 20 Jahren erschien Springsteens Comeback-Album mit einer Ansammlung von Liedern, die sich fast allesamt mit den Nachfolgen von 9/11 auseinandersetzten.

Ganze 15 Songs mit der fast maximalmöglichen CD-Laufzeit von 75 Minuten schafften es auf „The Rising“. Einige hätte Springsteen sich vielleicht schenken können, auch wenn er damit versuchte, ein größeres Bild zu malen, als es unbedingt sein müsste. Hin und wieder offenbaren kleine, mit wenigen Strichen gezauberte, aber pointierte Zeichnungen mehr als ein vollgestopftes Wandgemälde. „The Rising“ ist das Wandgemälde geworden, aber trotzdem gibt es auf dem Album viel zu entdecken und die meisten Songs bestehen mühelos den Test der Zeit. Eigentlich bestehen diesen Test alle Lieder, denn die schwachen Songs auf dem Album bleiben weiterhin die Schwachstellen des Albums. Doch fangen wir einmal von hinten auf dem Album an.

Das letzte Lied auf dem Album ist eigentlich das erste. „My City Of Ruins“, ursprünglich als eine Ode an die Stadt, mit der Springsteen für immer in Verbindung gebracht wird, Asbury Park, N.J. geschrieben, war das Lied beim Benefit für die Opfer des 11. September 2001, wenige Tage nach den Anschlägen der Höhepunkt. Ein Hoffnungsschrei, mit den E-Street Band Gitarristen Steve van Zandt und Springsteens Ehefrau Patty, zusammen mit einem Gospel Chor im Hintergrund, ansonsten nur begleitet von sparsamen Akustikakkorden, bildete der Auftritt neben den nicht seltenen „we kick your ass Osama“ oder ähnliche Rufen, einen hoffnungsvollen und vor allem differenzierten Kontrast zu vielen anderen auftretenden Künsterler:innen. Zum Ende driftet das Lied in einen wunderschönen Gospel und obwohl ich nicht gläubig und aus der Kirche ausgetreten bin, mich obendrein als Atheist betrachte, wünsche ich bei jedem Hören dieses Liedes eine innere Spiritualität zu haben, die mich glauben lässt. „With these hands – I pray for the strength, Lord. With these hands – Yeah, I pray for the faith, Lord. With these hands – I pray for your love, Lord”, denn mit diesen Händen lässt sich nicht nur beten, sondern auch wieder etwas aufbauen, etwas Neues erschaffen. So schließt das Album „The Rising“ nach vielen schweren Themen, aber auch viel Fröhlichkeit mit dem starken Wunsch aus den Ruinen etwas Neues zu schaffen, etwas Besseres. Im Herbst des Jahres 2001 weiß Springsteen nicht, wie sehr er enttäuscht werden wird. Ist „The Rising“ sein Kommentar zu 9/11 und die Zeit danach, so werden die Alben der nächsten zehn Jahre allesamt einen Bezug zu den jeweils aktuellen Geschehnissen in den USA aufweisen. „Devils & Dust“ handelt vom Krieg in Afghanistan und Einwanderung, „Magic“ ist stark vom Irak-Krieg geprägt und „Wrecking Ball“ beleuchtet die Auswirkungen der Finanzkrise, die im Jahr des Erscheinens von „The Rising“ zehn Jahre zuvor noch längst nicht absehbar ist. Das Jahrtausend ist noch jung und Springsteen hat mit seiner E-Street Band erst kürzlich die Reunion Tour abgeschlossen und seit ungefähr 15 Jahren kein neues Material mit seiner Band aufgenommen.

Am Tag nach den Anschlägen, die Geschichte ist bekannt und vielfach erzählt, fuhr Springsteen von seinem Haus in New Jersey zu einer Aussichtsplattform, starrte unter einem strahlendblauen Himmel, den sich nur jemand vorstellen kann, der ihn schon mal gesehen hat, auf die Lücke in der Skyline von New York, wo bis gestern morgen noch die zwei Türme standen. Ein Pick-Up fuhr in diesem Moment vor, die Scheibe wurde runtergekurbelt und ein Mann rief: „Wir brauchen die jetzt Boss!“ Der Legende nach soll Springsteen im Anschluss nach Hause gefahren und hat begonnen, an den Texten für „The Rising“ zu arbeiten. Ein Album, welches sich wie kaum ein anderes mit den Nachwirkungen, aber auch den Ereignissen direkt nach den Anschlägen beschäftigt und versucht, Trost und Hoffnung gleichermaßen zu verströmen.

Der Titelsong „The Rising“ behandelt wie „Into The Fire” den Einsatz eines Feuerwehrmannes in den Türmen. Beide Stücke ergänzen sich, wobei „The Rising“ spiritueller ist. Er befindet sich auf den Weg nach oben, in eine Welt, die er noch nie zuvor gesehen hat, nicht einmal für möglich gehalten hat. Die einzige Verbindung zum Vertrauten besteht durch seinen Vorder- und Hintermann und der Last, die er auf dem Rücken trägt, nämlich seinen Job, den es zu erledigen gilt. Der Refrain ist simple und besteht aus einem gospelähnlichen „Li, Li, Li, Li…“, ein Gesang, der verbindungsstiftend ist, wie ein Gospel eben funktioniert, ein sich selber Mut machen, um durchs Feuer zu gehen. Bildlich und wörtlich in diesem Song, denn vieles auf „The Rising“ (dem Album) lässt sich doppeldeutig lesen. Einmal ist da immer die Verbindung zum 9. September, aber darüber hinaus besitzen die Lieder eine Ebene, die sie allgemeingültiger und dadurch konsumierbar für alle macht. Ein Verlust ist ein Verlust, da ist es zunächst einmal egal, wie dieser entstanden ist. Als Nächstes sieht der Feuerwehrmann Mary, seine Frau, Freundin, die Mutter Jesus, es bleibt unklar vor sich. Jedenfalls ist es jemand, den er braucht, um den Mut zu haben, um durch diese Hölle zu gehen. Er denkt an seine Kinder und an alles, was sein Leben bereichert hat: „Blackness“, „Sorrow“, „Tears“, „Mercy“, „Sadness“, „Glory“, „Memory“ und nicht zuletzt „Love“. Bis ein letztes Mal der kraftvolle Refrain einsetzt, „Come on up for the rising, lay your hand in mine“, eine erneute Aufforderung wie in „My City Of Ruins“ etwas Neues zu schaffen.

Handelt „The Rising“ von dem Feuerwehrmann, der im Turm versucht, Menschenleben zu retten, so sind es seine Freunde oder seine Frau, die in „Into The Fire“ zu Wort kommt. Er wird bei seinen Lieben gebraucht, aber seine Pflicht ruft ihn zu einer größeren Aufgabe rein in den Staub und hoch ins Feuer. Er wird sterben, so viel sei an dieser Stelle verraten. Aber sein Tod soll nicht umsonst sein. So wie am Ende des Albums in „My City Of Ruins“ der Herr angefleht wird Liebe, Kraft und Trost zu spenden, so ist es am Anfang des Albums („Into The Fire“ ist der zweite Song) eben jener Feuerwehrmann, der durch seinen Einsatz und seinen Mut den Hinterbliebenen liebsten Kraft und Stärke und Hoffnung und Liebe schenkt. Das gesamte Album ist durchzogen von diesen Metaphern, es fällt nie ein böses Wort oder ein Satz des Hasses, nicht mal von Vergebung ist die Rede, sondern immer nur von dem Wunsch, den Schmerz zu ertragen und die Hoffnung, den Glauben (egal woran) und die Fähigkeit zu lieben, nicht zu verlernen.

Eröffnet wird „The Rising“ allerdings von dem Up-Tempo Track „Lonesome Day“, welcher davon handelt, es durch die Einsamkeit zu schaffen, die jemand fühlt, der/die einen Verlust erlitt hat. Witze auf Kosten der Person sind okay, so empfindet sie es, wenn sie nur durch diesen einsamen Tag kommt. Ich bin mir nicht sicher, was genau mit Witzen gemeint ist, aber bereits wenige Tage nach den Anschlägen mehrten sich auch hierzulande Stimmen, die von einer gesteuerten CIA Aktion faselten und meinten, es handele sich um einen Inside Job. Bis heute ist das ein absoluter Blödsinn, denn es gibt nicht ein einziges einleuchtendes Motiv dafür. Manche mögen meinen, um einen Krieg in Afghanistan vom Zaun zu brechen. Doch warum ein rohstoffarmes Land angreifen, wozu die USA nicht zu solchen Mitteln greifen und Tausende von Zivilisten töten müsste. Den zweiten Irak Krieg konnte die US-Regierung auch ohne solche drastische Mittel erklären und schließlich einleiten. Was auch immer die Gründe für die Anschläge gewesen sein mochten, sie zielten überwiegend auf das zivile Leben ab und nicht auf die Repräsentanten eines vermeidlich feindlichen Staates und weißt damit durchaus faschistische Züge auf.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die USA und ihre Verbündeten bereits im Afghanistaneinsatz, was Springsteen zu den warnen Worten verleitete, besser erste Fragen zu stellen und dann zu schießen. An dieser Stelle stellt Springsteen die Frage, die ihn mindestens die nächsten zehn Jahre, vielleicht sogar bis heute beschäftigen, wohin wollen wir als Menschen, Bürger:innen, Eltern & Kinder als Gesellschaft gehen, welchen Weg wollen wir einschlagen? Den des Hasses und des Krieges oder einen hoffnungsvolleren? Ein bisschen Rache mag okay sein und vielleicht die Seele befriedigen. Das ist schon okay, wie es im (auch hier simplen und verbindenden) Refrain heißt. Aber das Hauptanliegen muss doch sein, an diesem und jeden anderen Tag aus dieser Einsamkeit rauszukommen.

Bei „Waiting On A Sunny Day“ schafft Springsteen das Wunder, den Verlust eines Menschen und das Vermissen wie eine große Party klingen zu lassen. „It’s rainin‘ but there ain’t a cloud in the sky/ Musta been a tear from your eye / Everything’ll be okay” – Es regnet, obwohl keine Wolke am Himmel zu sehen ist, es muss eine Träne aus deinen Augen sein, alles wird okay sein – da ist es wieder – eins der Überthemen auf dem Album, „alles wird okay sein“, es wird dauern, es wird schmerzhaft sein, aber am Ende werden wir es als Nation, als Gesellschaft, als Gruppe von Freunden, als Familie schaffen.

Es gibt ein wunderbares Video von Schülern:innen von drei belgischen Musikschulen aus dem Jahr 2021, also mitten in der Pandemie entstanden, die sich durch das Singen dieses Liedes ein Springsteen Konzert in ihrem Land wünschen. Diese Aufnahme zeigt, wie 200 Menschen „Waiting On A Sunny Day“ spielen und singen und welche Kraft und Freude dieses Lied entfachen kann. Selbst wenn es auf Springsteenkonzerten eine Zeit lang zu häufig gespielt wurde und irgendwann dazu erhalten musste, dass irgendwelche Kleinkinder auf die Bühne gereicht wurden, die einmal den Refrain singen durften. Manche Eltern versuchten sich zu überbieten, ihre Kids darzureichen. Es nahm Ausnahme an, die nicht mehr schön zu beobachten waren und die Kinder in den meisten Fällen überforderte. Aber diese Aufnahme aus Belgien hat mich mit dem Song versöhnt und mir seine verbindende Kraft auf ein Neues vorgeführt.

Das darauffolgende „Nothing Man“ wurde bereits in den 90er Jahren geschrieben. Was der Anlass für den Text war, kann ich nicht sagen. Im Kontext mit „The Rising“ ist das Stück ein weiteres Lied über einen Feuerwehrmann. Sein Einsatz an den Türmen liegt ein paar Tage zurück. Er ließt von sich in der Lokalpresse, wo er als Held porträtiert wird. Egal was die Presse schreibt, er fühlt sich nicht als Held, sondern als jemand, der seine Pflicht getan hat und dabei Schreckliches gesehen hat. Deswegen wundert er sich, warum das Leben für viele Menschen (die nicht unmittelbar betroffen waren) schon wieder so normal verläuft. Der Himmel ist immer noch (oder wieder) unglaublich blau und es scheint fast vergessen, dass die Türme am Firmament fehlen. In einer Bar gratulieren ihn die Leute zu seinem Mut und stellen ihm Fragen, die er nicht beantworten kann oder will. Was er getan hat, empfindet er nicht als mutig. Jetzt mit den Erinnerungen zu leben, das ist für ihn mutig, denn es fällt ihm schwer, das Erlebte zu vergessen oder auch nur zu verarbeiten. Nur seine Frau kann ihn dabei helfen, wenn sie akzeptiert, dass er immer noch ein Niemand ist und nicht plötzlich eine lokale Berühmtheit. Das will er nicht sein. Mit einem Kuss soll sie beweisen, dass sie ihn noch immer als den Mann sieht, der er früher war.

Mag „Counting On A Miracle” vordergründig ein Liebeslied sein, so glaube ich, es handelt von der Liebe eines Vaters zu seinem Kind, für das er ein Narr sein will, auch wenn er nicht an Märchen glaubt oder unendliche Lieder, doch für sein Kind ist er bereit, seine vorgefertigten Meinungen fallen zu lassen und sich auf das Kindliche einzulassen. Er wird sein Leben für das (wohlergehen) des Kindes leben. Denn das Kind ist es, da sind wir abermals an den Punkt, das ihm Hoffnung, Liebe und Glaube (an die Zukunft) schenkt. Neben der kraftvollen Version auf dem Album existiert eine akustische Aufnahme, welche auf der Tour zum Album nach dem Ende des Konzertes vom Band lief. Springsteen singt beinahe im Falsett als eine Art Gute Nacht Lied und gibt den Song eine ganz neue Richtung und unterstreicht meiner Meinung nach die Idee, dass es sich hier nur indirekt um einen 9/11 Song handelt, sondern viel eher in die Zukunft schaut.

Vielleicht war ich vorhin etwas zu vorschnell, als ich das Thema Rache auf diesem Album ausschloss. In „Empty Sky“ kommt tatsächlich der Wunsch auf, ein Auge für ein Auge zu fordern. Jedoch überwiegt auch in diesem Lied eher die Trauer über den Verlust, über einen Menschen, der im Bett morgens beim aufwachen nicht mehr neben einen liegt. Leider ist „Empty Sky“ musikalisch nicht besonders gelungen. Es gibt fantastische Liveversionen, bei denen das Lied auf das wesentliche runtergebrochen wurde und überwiegend mit Akustikgitarren vorgetragen wird, was der Stimmung besonders zugängig ist. Auf dem Album wir das Stück als Mid-Tempo Stück runtergerattert, so als ob Springsteen Angst gehabt hätte, zu viele ruhige Momente, ggf. ohne ein weiteres E-Street-Band Mitglied zu hören, würde die Hörerschaft nicht aushalten. Im Grunde fehlt nur noch ein kräftiges Saxophonsolo am Ende, um „Empty Sky“ zu einem klassischen Springsteenrocker zu machen, der so gar nicht zum Text passen will.

Nun kommt der schwerste Teil. Von den nächsten vier Stücken mag einzig das düstere „Further On Up The Road“ , welches genial von Johnny Cash für seine American Recordings gecovert hat, die Qualität des Albums halten. Das sechs-minütige „Worlds Apart“ spielt mit orientalischer Rhythmik und wirkt eher anbiedernd. Wie auch das nachfolgende „Let’s Be Friends“ handelt das Stück von Austausch und das Liebe wichtiger als Hass sein sollte und eben Freunde sein. Schließlich noch „The Fuse“, welches im Grunde gar nicht so schlecht ist, wenn es nicht eine ähnliche Geschwindigkeit wie „Let’s Be Friends“ hätte und statt ebenfalls fast sechs Minuten etwas kürzer geraten wäre. Jedoch bleibt festzuhalten, keins dieser vier Stücke hat die emotionale Tiefe eines „Lonesome Day“ oder auch der nachfolgenden Stücke, die sicherlich zu den Höhepunkten von „The Rising“ gehören.

Als da zunächst „Mary‘s Place“ wäre. Ein Song, der Trost spendet und so was wie eine fröhliche Beerdigung zelebriert, so makabrer sich das im ersten Moment anhören mag, aber auch ein Lied, welches den Verlust thematisiert und den Versuch, diesen mithilfe von (verschiedenster) Religion (im Sinne von Spiritualität) zu verarbeiten.

Mary (die Frau des Feuerwehrmannes aus „The Rising“ oder die Mary, die in „Thunder Road“ auf der Veranda tanzte?) starb bei den Anschlägen am 9. September. Der Hinterbliebene möchte in Gedanken an seiner Frau eine Party veranstalten, weiß aber nicht so richtig, wie er es anstellen soll. „Meet me at Mary’s place, we’re going to have a party / Tell me how do we get this thing started? / Meet me at Mary’s place.” Alle ihre Freund:innen sind gekommen, Gelächter erfühlt die Nacht, die Möbel werden auf die (berühmte) Veranda gestellt und die Musik aufgedreht. Aber so gut die Party sich auch anfühlen mag, die Frage nach dem Umgang mit dem Verlust bleibt bestehen. „Meet me at Mary’s place, we’re going to have a party / Tell me, how do you live broken-hearted?”Ewird von nun an immer ein Bild von ihr bei sich tragen, welches ihn durch die Dunkelheit leuchten wird.

Bevor der Refrain („Meet Me At Mary’s Place”) los geht, ist ein Pre-Chorus mit den Zeilen „Let It Rain“ vorgesetzt und erinnert damit an den Regen ohne Wolken aus dem ähnlich euphorischen „Waiting On A Sunny Day.“ Eine kleine Anekdote noch hierzu während des Konzertes der „The Rising Tour“ in Hamburg, bei dem übrigens noch bis circa eine Stunde vor Beginn des Konzertes ein Platz im heute sogenannten Front Of Stage, also vor dem ersten Wellenbrecher, ergattert werden konnte, ohne dafür ein 30% teureres extra Ticket gekauft werden musste, wie aus Kübeln an zu schütten. Normalerweise das unangenehmste Konzerterlebnis überhaupt, in diesem Moment allerdings herrlich reinigend, erfrischend und passend.

Musikalisch und textlich das komplette Gegenteil ist das nachfolgende Lied mit dem schlichten Titel und selbsterklärenden Titel „You’re Missing“. Auch in diesem Stück hat jemand eine(n) geliebten Menschen verloren, kommt mit dem Verlust aber nicht zurecht und vermisst diese Person in jedem Moment des Alltages, wenn das Licht ausgeschaltet wird, beim Sonnenaufgang, beim Essen, beim Nach Hause kommen. Die Kinder fragen, ob diese Person den an diesem Abend zurückkommt. Und dann sind da noch die ganzen Anrufe von Freundinnen und Bekannten, die fragen, wie es so ist. Nun, wie soll es schon sein? Traurig und leer!

In „The Paradise“ geht es um einen Selbstmordattentäter am letzten Tag seines Lebens und weißt damit erneut einen Aspekt von 9/11 auf, allerdings zum ersten Mal aus einer kompletten anderen Sicht. Die Kunst von Springsteen bestand schon immer darin, Themen und Ereignisse, selbst Gefühle aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Die Position von „The Paradise“ ist auf dem Album direkt nach dem Titelsong von „The Rising“ platziert und spiegelt dieses Lied auf eine Art wider (das einem Feuerwehrmann in die Türme und weiter ins Jenseits folgt, wir erinnern uns). „Ich sehe dich auf der anderen Seite / Ich suche den Frieden in deinen Augen / Aber sie sind so leer wie das Paradies“ symbolisiert die Entdeckung des Selbstmordattentäters, dass das Paradies, auf das er gehofft hatte, leer und falsch ist (im Gegensatz zum Feuerwehrmann, der selbstlos war und daher im Jenseits sein Glück und Mary finden wird).

War mir all das schon so klar, als das Album 2002 veröffentlicht wurde? Natürlich nicht. Selbstverständlich war die Thematik, die „The Rising“ behandelt, nicht zu überhören, aber das Verständnis für die Tiefe und vor allem das Verarbeitende der Texte, das folgte erst viel später. Auch setzten sich viele Kritiken damals, zumindest im deutschsprachigen Raum, nicht besonders mit diesen Aspekten auseinander. Zu häufig wurde die Findung des Albums lediglich nacherzählt. Es überwog bei vielen Kritiker:innen vor allem die Freude überhaupt neues Material von Bruce und der E-Street Band zu hören.

Dass die Songs von „The Rising“ auch nach zwanzig Jahren nichts von ihrer Kraft und Tiefe verloren haben, spricht für die Qualität des Werkes. Noch immer kann Trost in diesen Liedern gefunden werden und Zusammenhalt ist heute vielleicht noch wichtiger, als es vor 20 Jahren der Fall war, diesseits und jenseits des Atlantiks. Und mit einer zukommenden wirtschaftlichen Rezession in Europa und die USA findet ein Song wie „My City in Ruins“ vielleicht wieder zurück zu seiner ursprünglichen Bedeutung, in dem es um eine Stadt im Niedergang geht. Die Geschäfte und die Jobs sind weg, es folgen die Menschen, was bleibt ist Leerstand und Hoffnungslosigkeit. Und diese Hoffnungslosigkeit entgegnet Bruce und füllt sie aus.

Dies soll Teil 1 zu drei Springsteen Jubiläen dieses Jahr sein. Teil 2 folgt im September.

 


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