Fremdgehört – Der musikalische Seitensprung 2.0

In unregelmäßigen Abständen werden pfa und claas sich an dieser Stelle gegenseitig Musiktipps geben, die der jeweils andere kommentieren muss. Dabei kann es sich um Neuerscheinungen, Klassiker oder gerade aktuelle Lieblingssongs handeln.

Fremdgehört. Foto: pfa

Weltherrschaft. Ein vernünftiges Online-Mag. Ein Punkrock-Podcast. Mehr Bier. Wenn Claas (cr) und Pascal (pfa) sich trotz Corona mal im Viertel treffen und an den Ecken rumlungern, haben sie große, irre, manchmal verrückte Pläne.  Am Ende bleibt es oft bei Sätzen wie: Lass mal was machen. Lass mehr treffen. Lass mehr über Musik reden. Statt weiter destruktiv zu sein, wird jetzt gemacht. Herausgekommen ist schon im Sommer ein Format, in dem sich die Beiden gegenseitig Musik-Tipps geben und der andere sie zerreißen oder abfeiern darf. Hier Folge eins. Ganz unten gibt es die Spotify-Playlist dazu.

(pfa)-Tipp 1: Infidelix – Anthem of the lost

(pfa) sagt: Das Video, in dem Infidelix in der Berliner U-Bahn-Station sitzt, die Sängerin EllandM vorbei kommt und mit ihm diesen Song performt, kennt man ja. Hat ja nur mehr als 14 Millionen Aufrufe das Ding. Finde die von Infidelix produzierte Version annähernd so großartig wie die Live-Version, auch wenn die Power etwas fehlt. Und hey, es ist mal kein Punkrock.

(cr) meint: Ist Infidelix der AnnenMayKantereit des „deutschen“ Hip-Hops? Vielleicht, jedenfalls lassen sich Parallelen ziehen, denn der US-Amerikaner fing ebenfalls mit Straßenmusik und dazugehörigen You Tube Videos an. Ich gebe es gerne zu, eigentlich müsste mir das gefallen, weil hier jemand eine Geschichte erzählt. Tut es aber aus irgendeinem Grunde nicht. Gleich dieser Ragga angehauchte Ton in der ersten Line stört mich und kickt mich raus. Trotzdem bleibt die Hook nach mehrmaligem Hören im Kopf hängen, vor allem der zweite Refrain mit „where do I run“ fällt mir immer wieder mal ein und ich ertappe mich dabei, den Rest des Stückes in Gedanken mitzunicken. Das Stück besitzt schon einer gewissen Dringlichkeit und das ist cool. Schwierige Nummer, ist schon gut, aber es stört mich etwas und ich kann es nicht richtig greifen. Ich glaube, am Ende des Tages nehme ich das den Typen einfach nicht ab. Ist hart, aber so ist es einfach. Tut mir leid.

 

(pfa)-Tipp 2: Hot Water Music – „Killing Time“

(pfa) sagt: Hierüber müssen wir sprechen. Ich finde es geil. Schön laut, rotzig, wütend. Ach, Chuck Ragan kann es halt.

(cr) meint: Ich bin immer der Meinung, die Songs kommen zu einem und nicht umgekehrt. Soll heißen, gut das pfa dieses Stück in dieser Ausgabe von Fremdgehört hat, denn jetzt höre ich das Lied auch endlich mal, ist ja schon ein paar Tage draußen. Und es steht ja mal außer Frage, dass ein Hot Water Music Lied locker 90% aller anderen Punksongs in die Tasche steckt. Und trotzdem hätte ich gehofft, dass die Band sich weiterhin eher an dem Sound der Shake Up The Shadows E.P. orientiert, was auf „Killing Time“ eher nicht so klingt. Das ist schade, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich für das, was da kommen mag, noch die gleiche Begeisterung aufbringen kann wie früher (oder eben zu der Shake Up The Shadows). Vielleicht macht sich jemand mal die Mühe und erstellt eine Playlist mit all den Bands, die auf den Konzertpostern im Video zu sehen sind. Grüße gehen raus an Muff Potter. Aber hey, es sind Hot Water Music und dagegen kann und will ich einfach nichts sagen. Ist vielleicht auch gut so, denn jedes Mal, wenn ich in meinem bisherigen Leben eine heftige Hot Water Music Phase hatte, aber ich danach den Job gewechselt oder irgendwas anderes Entscheidendes im Leben ist passiert. Wenn ich allerdings nur noch einen HWM in meinem Leben hören dürfte, würde ich eher einen anderen Track als diesen wählen. Das ist mal sicher.

 

(pfa)-Tipp 2: Rising Insane – Something Inside Of Me

(pfa) sagt: Ja, vielleicht ist das für Metalcore/Post-Hardcore ein klein wenig plakativ und überdreht. Aber ich feiere diesen Bombast, diesen Sound, diese Tempowechsel. Und das kommt aus Bremen. Gut 250.000 monatliche Spotify-Hörer können nicht falsch liegen. So viele Hörer hat meines Wissens nach keiner anderen Bremer Band.

(cr) meint: Och nö, ich bin raus, was soll das? Beim TRUST trudeln wöchentlich gefühlt 20 Alben in diesem Stiel ein, eins langweiliger und ideenloser als das andere. Und nein, Keyboards und elektronikspielereien sind nicht innovativ. Keine Ahnung, wer überhaupt mal auf die Idee gekommen ist, das als Post-Hardcore zu beschreiben, hat es doch mit Hardcore (zumindest, wie ich es begreife) überhaupt nichts zu tun. Ich verstehe ja, dass jemand aus Schierbrok (den dort kommen die Jungs wirklich her – Bremen hat einen Hang, sich mit Künstler*innen zu schmücken, die zwar Berührungspunkte mit der Stadt haben, aber eigentlich woanders herkommen oder schon längst weggezogen sind – vielleicht weil es hier ansonsten so wenig gibt) wütend und traurig ist und metalaffine Musik hatte in diesem Landstrich schon immer einen hohen Stellenwert. Aber trotzdem… Gibt es für so was eigentlich eine Szene? Eine Metalcoreszene, und die Menschen hören den ganzen Tag nichts anderes? Oder ist dieses Genre eher so etwas wie ein Abfallprodukt und Metaler, wenn ihnen mal langweilig ist, hören dann eben Core? Fragen über Fragen. Tomte haben mal gesungen: Ich möchte kein Panthera mehr hören müssen, denn ich werde schon genug angeschrien. Passt hier auch.

Fazit von (cr): Viele junge (und nicht mehr ganz so junge) weiße Männer, die zwischen Pathos und Schmerz, zwischen Leid, Liebe und Verlust einen Platz in dieser Welt suchen und von einer beachtlichen Anzahl an Menschen gehört werden. Aber ob das wirklich ein Zeichen von Qualität ist?


(cr)-Tipp 1: Shitney Beers – „Modern Love“

(cr) sagt: Ein Name, so albern wie genial, aber überraschend tiefgehende Lieder über Gentrifizierung, Abteibung, Geschlechterrollen, umgekehrte Märchen und Liebe verstecken sich dahinter.

(pfa) meint: Der Künstlername kann was. Das Label (Zeitstrafe) sowieso. Dass Sängerin Maxi Haug ihren Studiengang hingeworfen hat, um Songs zu schreiben, macht sie ebenfalls sehr sympathisch. Einfach mal machen, anstatt alles theoretisch zu lernen. Das Songwriting ist fein: Alltägliches, eine kleine Situation, die das große Ganze darstellt. Ja, Wäscheständer muss keiner durch den Raum werfen und das Leben ist eben kein Song von Bloc Party. So lieblich und sinnlich die Stimme der Sängerin auch ist, es schwingt diese Punk-Attitüde mit. Leider ist der Song mit seinen 2:35 Minuten sehr kurz. Hätte länger sein dürfen. Aber: Ein Herz für dieses Stück.

(cr)-Tipp 2: Bleachers – „Stop making this hurt“

(cr) sagt: Jack Antonoff ist hauptsächlich als Produzent von so „kleinen“ Indie-Künstlerinnen wie Taylor Swift, Lorde oder Lana Del Rey unterwegs. Hier mit einem eigenen Projekt und der Typ kann alles. Ist ein Grower und dann ein Ohrwurm.

(paf) meint: Auf Bleachers ist (cr) doch nur aufmerksam geworden, weil beim Song „Chinatwon“ der Boss (Bruce Springsteen) mitsingt. Mir ist das zu poppig, zu albern, zu eingängig. Traurige Pop-Musik, die irgendwie versucht, gute Laune zu verbreiten. Oder so. Schön, dass Jack Antonoff für die ganzen großen Sängerinnen unserer Zeit als Produzent arbeitete. Was interessiert es mich, dass er fünf Grammy Awards gewonnen hat. Beim dritten Mal hören, war ich von dem Stück irgendwie gelangweilt. Schlimm daran: Ich hatte trotzdem einen nervigen Ohrwurm. Hier hätte der Song mit dem Boss besser abgeschnitten. Sowieso: Das ist irgendwie so ein David-Bowie-Sound mit einer halben Big-Band dabei, und all das will auch noch ein bisschen Springsteen sein. Sorry, nix für mich.

(cr)-Tipp 3: Little Simz – „Introvert“

(cr) sagt: Die Gegenwart und Zukunft von Rap und R`n`B ist britisch und weiblich!

(pfa) meint: Der Song startet, als ginge es um einen der Rocky-Filme, wahrscheinlich der vierte Teil. Sylvester Stallone trainiert hart und rennt mit einem riesigen Holzpflock auf dem Rücken durch den Schnee oder wahlweise eine endlos lange Treppe hinauf. Das ist ja ganz geil. Doch hier geht es um was anderes. Little Simz hat eine Hymne an die Weiblichkeit geschrieben, an die Women of Color. Das ist wichtig, das ist stark, das dürfte tatsächlich ziemlich groß werden. Wäre es etwas minimalistischer, also mit weniger Fanfaren und Gebläse, würde es mich sehr an den Sound von The Pharcyde erinnern. Für die Werte, die Little Simz vertritt und für die sie kämpft, hätten die Rap-Passagen für meinen Geschmack noch etwas aggressiver sein können. Und: Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden, ob das Rap, R’n’B oder Pop ist. Aber um nachts alleine durch die Straßen zu ziehen, ist diese Musik genau das richtige auf dem Ohr.

 

Fazit (pfa): Ja, das hat alles einen gewissen Tiefgang. Also rein textlich gesehen. Musikalisch überzeugt mich Shitney Beers am meisten. Häufiger anhören kann ich mir nur die beiden weiblichen Stimmen.


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