The Hold Steady – Open Door Policy, Positive Jams Rec., 2021

Eine (normale) Album Review? Ein Liebesbrief an eine Platte? Eine Aufforderung Open Door Policy von The Hold Steady zu mögen? Alles zusammen? Mehr Fragen als Antworten? Ihr entscheidet!

Jede Review ist (m)ein Versuch, Menschen zu überreden, sich mit dem besprochenen Werk wenigstens einmal zu beschäftigen. Wenn auf dieser Seite ein Musiktipp erscheint, hat sich der Autor zumeist mit der Musik beschäftigt und schreibt aus eigenem Antrieb und Willen, ohne Hintergedanken oder Agenda. Das kommt heutzutage leider viel zu selten vor.

Über The Hold Steady habe ich in meinem Leben schon viel geschrieben, Album- und Konzertkritiken, Interviews, Facebookbeiträge und Kolumnen, außerdem kann ich jederzeit über die (musikalische) Genialität der Band und vor allem über die Texte von Sänger Craig Finn sprechen, philosophieren, nachdenken und Stunden damit verbringen geheime Botschaften, Verweise auf andere Lieder (oder Filme, Bücher, Drogen, Straßengangs, you name it) zu suchen und mich wie ein kleines Kind zu Weihnachten freuen, wenn ich eine Verbindung entdeckt habe, von der ich vorher nichts wusste. Das gilt für Finns fantastisches Solowerk, welches tendenziell etwas ruhiger und akustischer ist als die Musik der Hauptband, als auch für The Hold Steady. In meiner Welt kann ich kaum Verständnis für Menschen aufbringen, die nicht ebenso denken wie ich oder die noch viel schlimmer, sich nicht einmal darum bemühen, The Hold Steady (besser) kennenzulernen. Es ist ganz gewiss nicht leicht, sich in die große textliche und musikalische Vielfalt einzuarbeiten. Aber seit wann macht etwas Spaß, dass sich nicht erarbeitet werden muss, um an Ende das Gefühl einer Belohnung zu verspüren? Serien auf Netflix konsumieren kann jeder! Bücher lesen auch, immerhin ein besserer Ansatz, erfordert es schon mal mehr Konzentration und Vorstellungskraft. Aber beides verbinden und mit kraftvoller Musik zu unterlegen, das hat vielleicht mal der junge Springsteen vor 187 Jahren geschafft, aber seitdem niemand und vor allem niemals in dieser Form und Konsequenz, wie The Hold Steady es zelebrieren!

Ich könnte jetzt von den wilden und lauten, krachigen ersten Alben Almost Killed Me und Seperation Sunday anfangen, von den Großtaten Boys & Girls in America und Stay Positive oder von den immer noch guten, aber nach Veränderungen und Reife suchenden Heaven is Whenever und Teeth Dreams, sowie vom letzten Album Trashing through the Passion, welches mehr eine Zusammenstellung von losen Songs war. Ich könnte von der großen, über (fast) alle Alben erzählenden (Wiederauferstehungs-) Geschichte über (der coolen Küsserin, aber schlechten Tänzerin) Holly, dem Skindhead Gideon, der hellsehenden Sapphire und dem Drogendealer Charlemagne berichten und wie die Songs miteinander verbunden sind. Aber das könnt ihr auch im Internet nachlesen, u.a. von mir hier. Ich weiß auch nicht, ob es mir gelingen wird, irgendjemand von Open Door Policy, dem achten Studioalbum von The Hold Steady mit diesem Text zu überzeugen. Ich wünsche es mir. Die Band hätte es verdient, ich hätte es verdient (Belohnung und so, ihr wisst schon), aber vor allem hättet ihr es euch verdient! Wenn ihr in diesem Text bis hierhin vorgedrungen seid, ist bei euch zumindest etwas Neugierde vorhanden. Und das beweist, dass das Leben eben nicht nur aus Spotify Algorithmen bestehen muss, sondern Geschmack noch erarbeitet werden kann und es ein Verlangen danach gibt!

Jetzt habe ich schon fast eine Seite geschrieben und noch immer nichts zu Open Door Policy gesagt. Um es gleich vorwegzunehmen (ihr habt es sicherlich schon geahnt) – das Album ist fantastisch geworden. Anders als jedes andere The Hold Steady Album zuvor, mehr Experimente, weniger Barbandrock, mehr Abwechslung und ruhigere Momente. Das Klavier und die Orgel von Multiinstrumentalist Franz Nicolay spielen zum ersten Mal seit Stay Positiv wieder eine größere und wichtigere Rolle. Das beweist alleine schon der Opener The Feelers, das anfangs von einer Klaviermelodie bestimmt wird. Den ersten Ton setzt allerdings bereits in Sekunde null Craig Finns Stimme, der mehr spricht als singt, ehe ein Wimpernschlag später die Musik einsteigt: „It was an early morning meet-up at the mansion up the mountain.“ So zwanglos dieser Satz auch klingt, so zieht er den Hörer sofort in eine Szenerie, die an einen Film erinnert. Geübte The Hold Steady fragen sich bereit nach diesem Moment, um welches Anwesen es sich wohl handelt und in welchem Gebirge es liegt und warum es ein Treffen am frühen Morgen gibt (das kann nichts Gutes bedeuteten!). Genau wegen diesen Fragen, die meisten davon werden für immer unbeantwortet bleiben, macht es so viel Spaß Fan (nein, Teil) von The Hold Steady zu sein.

Nach ein paar Zeilen setzt ein sanftes Schlagzeug ein und am Ende der ersten Strophe baut sich eine Gitarre auf und beendet den Vorspann des Films, um die Haupthandlung zu beginnen. Ein Drogendeal? Eine Liebesgeschichte? Womöglich beides? Ich weiß es nicht! Aber ich werde es in den nächsten Wochen und Monaten rausfinden. Ganz sicher weiß ich aber jetzt schon, dass die Songs auf dem Album sich aufeinander beziehen, denn in The Feelers heißt es: „Each daybreak there’s a new parade“ und im nächsten Song Spices dann: „And in the morning we watched the parade“ – Zufall? Bei jeder anderen Band, aber nicht bei The Hold Steady. Über das Lied sagt Craig Finn: „Spices begann mit dem Intro-Riff, das Gitarrist Tad Kubler einbrachte, und es entfaltete sich schnell, als die Band zusammenkam. Für unsere Verhältnisse ist der Song ziemlich „heavy“, aber durch die Bläsersektion im Refrain gewinnt der Song an Leichtigkeit.“ Inhaltlich geht es in Spices um Technologie und darum, wie soziale Medien, Textnachrichten oder DMs einerseits die Kommunikation mit neuen Bekanntschaften erleichtern. Andererseits können diese Bekannten genauso schnell wieder verschwinden. Eventuell ja sogar in eine Nervenheilanstalt. Darum geht es im darauffolgenden Stück Lanyards – einem der besten Lieder auf Open Door Policy – eine Schauspielerin scheitert in Hollywood an ihren Träumen und versucht sich auf eine tragische Weise selbst zu töten: „When they kicked in the door they said that’s way too much blood for a nosebleed.“ Und es folgt die Erkenntnis: But depression isn’t kidding man“. Auch dieser Song ist von einem sehnsüchtigen Klavier durchzogen, baut sich bei den zitierten Textzeilen auf und die Trauer, Wut und Angst sind förmlich in Craig Finns Stimme zu hören.

Ein weiterer Höhepunkt auf Open Door Policy ist Heavy Covenant, mit seinem stumpfen Beat zum Kopfnicken und einem schrillen Orgelthema. Laut Finn „ein Song über Reisen, Technologie und menschliche Verbindung. Der Song entstand aus zwei verschiedenen Musikstücken, die Franz Nicolay einbrachte, und mit Hilfe des Produzenten Josh Kaufman kombinierten wir sie. Es fügte sich schnell zusammen, und als unsere Freunde Stuart und Jordan dazukamen und die Bläser zum Refrain hinzufügten, schien es das Ganze wirklich zu vervollständigen. Für uns ist dieser Song ein gutes Beispiel für den Sound der Band im Jahr 2021.” Im Text beweist Finn hier, dass er moderne Medien und Gegenstände in den Songs unterbringen kann: „Slide your little phone into the airplane mode“, und gleichzeitig ein Gefühl für klassischen (Underground) Rock’n’Roll heraufbeschwören kann, der in immer weiter in Vergessenheit gerät und von Bands leider nur noch selten heraufbeschworen wird. Zu altbacken und uncool mag er für manche sein, was auch der Fall ist, wenn die Sache nicht richtig angegangen wird. Wer aber das Beste aus 40 Jahren Punkrock, Indie-Rock und große Songwriterkunst zusammenbringt und das Ganze hymnischen und euphorisch mit Leidenschaft vorträgt, kann Herzen im Sturm erobern, sofern zugehört wird. Das ist die ewige Einschränkung bei The Hold Steady. Die Band macht es niemanden leicht, wir hatten das Thema bereits am Anfang dieses Textes. Diese Band will es niemanden leicht machen. Dafür erfährt die Band im Gegenzug eine Hingabe aus dem Publikum, welches für „normale“ Gruppen für immer und ewig verschlossen bleibt!

Trotz der fast durchweg düsteren und ernsten Themen auf Open Door Policy ist die Musik positive, was vor allem an dem Einsatz der vielen Bläsersätzen in den Refrains liegt. Besonders in Verbindung mit Nicolays Orgel und lauten Gitarren entfalten diese Instrumente einfach gute Laune, das wusste schon Springsteen in den 70’ern. Bei The Hold Steady werden diese Momente aber nicht mit Solos als Highlights herausgestellt, dafür hat die Band ihre Wurzeln zu tief im Punk und Hardcore, stattdessen werden die Instrumente gekonnt in den Gesamtsound integriert.

Es wäre ein leichtes, nun jeden weiteren Song zu beschreiben, etwas daraus zu ziehen, Verbindungen aufzuzeigen, aber dann würde dieser Text erstens noch ein ganzes Stück länger werden, als er es eh schon ist und zweitens kaum noch Überraschungen für mögliche Hörer bereithalten. Und davon hätte Open Door Policy eine Menge verdient. Fürs Album of the Year kann dieses Jahr eigentlich kaum noch was passieren! Jedenfalls macht es mich süchtig, läuft mehrmals am Tag direkt hintereinander, ich will es aufsaugen, Teil des Ganzen werden nichts mehr, nichts weniger. Vielleicht konnte ich mit diesem Text nun ein paar Menschen überzeugen, vielleicht habe ich ja sogar „perfekte Wörter“ gewählt, wie Craig Finn es sagen würde. Denn: “You can get it almost anywhere / If you know the perfect words to say. / That’s a pretty heavy covenant”

 

Open Door Policy erscheint am 19. Februar 2021!

 

 


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