9 Fragen an Sarah Ryglewski

Wir sprachen mit den Direktkandidaten des Wahlbezirks Bremen I. Dabei stellten wir stets dieselben Fragen, um ein Möglichst einheitliches Bild der Kandidaten, ihrer Parteien und ihrer Positionen zu zeichnen. Hier sind die Antworten von Sarah Ryklewski von der SPD.

Wie muss die Politik auf eine schleichende Entdemokratisierung in Europa reagieren, um das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen zu stärken?

Bei allen Herausforderungen, vor denen Europa zurzeit steht: Die Europäische Integration ist ein großes Glück für Deutschland. Für die Zukunft sollte die EU sich stärker auf die zentralen Aufgaben konzentrieren, die wir gemeinsam zu bewältigen haben. Das sind in erster Linie der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt im Euroraum, der Umgang mit Geflüchteten und der drohende Brexit. Statt nationaler Alleingänge brauchen wir eine engere Zusammenarbeit und ein stärkeres Europäisches Parlament. Gegenüber autoritären Regierungen wie Ungarn oder Polen muss Europa Haltung zeigen: Wer jährlich zig-Milliarden aus Fördertöpfen empfängt, muss sich im Gegenzug auch solidarisch zeigen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Mit Blick auf das Vertrauen in die EU hat CDU-Finanzminister Schäuble in der Finanzkrise viel Porzellan zertrümmert, indem er bei unseren Partnern harte Sparmaßnahmen durchgesetzt hat, die ökonomisch mehr Schaden als Nutzen gebracht haben. Mit einer europäischen Wirtschaftsregierung und einem Investitionsbudget wollen wir neue wirtschaftliche Dynamik und Perspektiven für die jungen Menschen in Südeuropa bringen.

Der „Dieselskandal“ überschattet diese Phase des Wahlkampfs. Dennoch soll keine E-Auto-Quote (wie in China) kommen. Muss der Wirtschaft nicht im Allgemeinen viel mehr Vorgaben von der Politik gemacht werden, wenn die Unternehmen selber keine oder zu wenig Fortschritte vorweisen kann?

Wir brauchen mehr Druck auf die Industrie, die beim Diesel-Gipfel Anfang August damit davon gekommen ist, Diesel-Pkw lediglich mit einem Softwareupdate nachzurüsten. Deshalb hat Martin Schulz einen 5-Punkte-Plan vorgelegt. Dieser umfasst folgende Forderungen: 1. Wenn sich bei der Evaluation auf dem zweiten Autogipfel im Herbst zeigt, dass Software-Updates nicht ausreichen, müssen technische Umrüstungen auf Kosten der Hersteller folgen. 2. Verkehrsministerium und Autoindustrie müssen innerhalb des nächsten halben Jahres unabhängig voneinander prüfen, wie Dieselfahrzeuge auf Kosten der Hersteller technisch nachgerüstet werden können. 3. Besitzern älterer Diesel, die sich trotz der angebotenen Kaufprämien keinen Neuwagen leisten können, muss eine technische Nachrüstung angeboten werden. 4. Wir müssen Grauzone bei Prüfverfahren beseitigen, durch die Hersteller bisher legal die Abgasvorschriften umgehen konnten und Stichproben an den Fahrzeugen durchführen. 5. Eine verbindliche Quote für Elektroautos in Europa einführen.

Medial in den Hintergrund gerutscht ist die Energiewende. Können und werden die gesteckten Ziele eingehalten, ohne weitere Belastungen für die privaten Haushalte?

Der Ausbau der Erneuerbaren Energien läuft: 2016 wurden an Land 24 Prozent mehr Windenergieanlagen neu errichtet als 2015. Windanlagen auf dem Meer haben 818 MW Strom im letzten Jahr eingespeist. Und vor allem konnten wir den rasanten Anstieg der Kosten durch unsere EEG-Reform stoppen. Sigmar Gabriel hat als Wirtschaftsminister die Förderung der erneuerbaren Energie reformiert. Sie wird nun nicht mehr staatlich gesetzt, sondern über Ausschreibungen ermittelt. So sind die Kosten für die Förderung gesunken und der Ausbau wurde planbar. Die Verlässlichkeit der Energieversorgung haben wir über ein Strommarktgesetz gesichert. Durch die Förderung von Bürgerenergiegesellschaften und die Nutzung von Solarstrom in Mietshäusern profitieren mehr Bürger von der Energiewende. Für die kommende Legislatur ist uns Sozialdemokraten wichtig, die Energiewende auch im Verkehrsbereich zu vollziehen: Unter CDU-Verkehrsminister Dobrindt ist der Ausbau des Schienenverkehrs, des Nahverkehrs, des Radverkehrs oder von Batterie und Brennstoffzellen kein Stück vorangekommen. Um speziell bei uns im Norden Windenergie auf See voranzubringen, setze ich mich dafür ein, die Deckelung des Offshore-Ausbaus rückgängig zu machen und für einen schnelleren Netzausbau zu sorgen.

Wie wollen Sie und Ihre Partei, die hier lebenden und wahlberechtigten türkisch-stämmigen Mitbürger für Ihre Partei begeistern und wie soll die zukünftige Türkeipolitik aussehen?

Die SPD macht nicht gesondert für bestimmte Gruppen Politik, sondern setzt sich für sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft insgesamt ein. Voraussetzung dafür sind Investitionen in die Zukunft aller, die hier leben, arbeiten und zu Hause sind. Die Bürgerinnen und Bürger mit türkischen Wurzeln sind ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft – das darf durch die momentanen Spannungen mit der türkischen Regierung niemals angezweifelt werden. Die meisten, mit denen ich spreche, wissen die Demokratie und die freie Wahlentscheidung in Deutschland zu schätzen, sie sehen selbst mit Sorge auf die Entwicklungen in der Türkei und sind eine wichtige Brücke für die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Klar ist natürlich, dass die deutsche Politik klare Worte finden muss, wenn die Türkei unschuldige deutsche Staatsbürger verhaftet. Ich habe immer dafür plädiert, dass der Gesprächsfaden nicht abreißen darf, aber nachdem sämtliche rote Linien überschritten wurden, gibt es für weitere Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU keine Perspektive mehr. Dennoch: Erdogan ist nicht die Türkei, wir müssen auch die Menschen unterstützen, die dort um Demokratie und Menschenrechte kämpfen.

Brexit: Reisende soll man nicht aufhalten – oder ist Großbritannien doch wichtig für Deutschland und Europa?

Selbstverständlich ist Großbritannien wichtig für Deutschland und Europa. Doch Großbritanniens Entscheidung, die EU zu verlassen, haben wir zu respektieren – auch wenn sich viele gerade junge Menschen dort sich ein anderes Ergebnis gewünscht hätten. Der Brexit wird viel Schaden anrichten: Er kostet nicht nur Geld und Arbeitsplätze, sondern er schwächt die EU auch politisch. Es zeichnet sich schon ab, dass der Austritt dem Vereinigten Königreich selbst die meisten Schmerzen bereiten wird. Es kann für einen ehemaligen Mitgliedstaat nicht die gleichen Vorteile geben wie für Mitglieder. Trotz der schwierigen Verhandlungen setzen wir uns dafür ein, dass die EU und Deutschland auch künftig freundschaftlich mit Großbritannien verbunden sein werden.

Scheitert der Generationsvertrag und braucht Deutschland eine tiefgreifende Rentenreform – und wie könnte diese aussehen?

Das Rentenniveau wird ab 2030 sinken, wenn wir die Rente nicht reformieren. Deswegen wird es nach der Bundestagswahl darum gehen, sie für die nächsten Jahre gut aufzustellen. Als Sozialdemokratin setze ich mich für eine Rente ein, die vor Armut schützt und ein gutes Leben im Alter ermöglicht. Es kann nicht sein, dass Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, im Alter zum Amt gehen und um Aufstockung bitten müssen. Um eine verlässliche und solidarische Rente dauerhaft zu realisieren, setzen wir zudem von vornherein auf anständige Löhne, kostenlose Kinderbetreuung und den Aufbau einer Demografie-Reserve aus Steuermitteln. Klar ist: Nur wenn sich junge Leute auf ihre Rente verlassen können, wird ein neuer Generationenvertrag dauerhaft tragen. Die CDU hat trotz dieser Entwicklungen kein Konzept zur Zukunft der Rente und macht lediglich besorgniserregende Vorschläge wie eine Rente mit 70 oder Rentenkürzungen. Beides wird es mit uns nicht geben!

Die Auswirkungen der so genannten Flüchtlingskrise sind noch immer zu spüren. Wie kann eine nachhaltige Integration der Menschen gelingen?

Gelingende Integration braucht zunächst einmal eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Länder und Kommunen, damit diese ihre Aufgaben und Herausforderungen bewältigen können. Wir haben diese Legislatur ein Integrationsgesetz beschlossen, das verpflichtende Sprachkurse und mehr Arbeitsmöglichkeiten beinhaltet. Dringend nötig sind aber noch mehr Investitionen in Bildung, mehr Kitaplätze und ausreichend Wohnraum für alle. Sprache und Arbeit sind die wichtigsten Schlüssel zur Integration, deshalb müssen Menschen, die ihre beruflichen Qualifikationen im Ausland erworben haben, in Deutschland in ihrem erlernten Beruf arbeiten können. Hierfür bedarf es eines bundeseinheitlichen Anerkennungsgesetzes. Und Integration fordert aktives Engagement, wir alle müssen daran arbeiten, dass dieses Land zusammenwächst und zusammenhält. Sinnvoll ist zudem die doppelte Staatsbürgerschaft, die Menschen sollen sich sowohl mit ihrem Herkunftsland, als auch mit Deutschland identifizieren. Nötig ist parallel ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild als Schritt hin zu einer Einwanderungskultur. Damit schaffen wir legale Zuwanderungsmöglichkeiten mit klaren Kriterien für Menschen, die nicht unter das Asylgesetz fallen, setzen Rahmenbedingungen für Fachkräfte aus dem Ausland und machen deutlich, dass Einwanderung ein Gewinn für alle sein kann.

Was ist für Sie und Ihrer Partei das wichtigste Vorhaben der nächsten vier Jahre?

Gute Arbeit und gute Renten! Wir müssen gerade jungen Menschen mehr Planbarkeit für ihr berufliches und privates Leben ermöglichen, dafür setzte ich mich persönlich und dafür setzt sich die SPD ein. Die Abschaffung sachgrundloser Befristung und die Einschränkung der Sachgründe ist neben öffentlich geförderter Beschäftigung, die Perspektiven für Langzeitarbeitslose schafft, das drängendste Thema. Unser Ziel sind sozial abgesicherte und nach Tarif bezahlte Arbeitsplätze.

Was möchten Sie für Bremen (und wie) in den nächsten vier Jahren erreichen?

Meinen wichtigsten Auftrag für Bremen in Berlin sehe ich darin, mich für mehr finanziellen Spielraum für Bremens Zukunft einzusetzen. Durch die Neuregelung der Bund-Länder-Finanzen ist bereits mehr Planungssicherheit gewonnen: Bremen wird durch die Reform insgesamt 487 Millionen Euro pro Jahr erhalten – Tendenz steigend. Wir können in Deutschland nicht länger an Schäubles Dogma der schwarzen Null festhalten und von unserer Substanz leben! Wir müssen dringend mehr in Kitas, Bildung und bezahlbaren Wohnraum und damit in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Zukunft investieren.


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