The Notwist – Vertigo Days, Morr Music, 2021

Nach sechs Jahren melden sich The Notwist mit einem neuen Album zurück, das (fast) alles anderes macht als sein Vorgänger und trotzdem unverkennbar ist.

Es gibt Bands, deren Albumveröffentlichungen können als internationale Festtage beschrieben werden, weil sich nahezu alle, die Blogs, die Musikzeitschriften und das Feuilleton darauf einigen können. Radiohead gehören zu dieser Kategorie, The National ebenso und ganz sicher auch The Notwist, eine der international bekanntesten deutschen Bands überhaupt.

Ist es verwunderlich, dass die drei genannten Bands ihren Ursprung allesamt im schrammeligen Indierock mit Popappeal haben, sich über die Jahre, im Falle von The Notwist sind es nahezu 30 Jahre, aber durch die Zunahme von sanfter Elektronik und dem Verfolgen von verspuhlten Ideen, von jeglichen Genreregeln freigeschwommen haben und nur noch der eigenen Soundästhetik folgen? Vermutlich nicht. Denn auch auf Vertigo Days kreieren The Notwist einen eigenen Klang, der die Hörerschaft vom Intro bis zum letzten Song in einen Sog zieht. Daran sind zu einem die hektischen Rhythmen, zum anderen die Gesangsstimme verantwortlich.

Beginnt das Album noch mit einem recht disharmonischen, fast schon nervenden Intro, nimmt das Album schon bald Fahrt auf, häufig gehen die Songs in einander über und beziehen sich zu späteren Zeitpunkten auf dem Album aufeinander. Sogar der Überhit „Pick up the phone“ vom 2002 Album Neon Golden erfährt eine Erwähnung. Ergänzt werden die elektronischen und störrischen Grooves immer wieder von einzelnen (analogen) Instrumenten, hier mal eine leise gepickte Gitarre, dort eine Klarinette oder Saxofon.

Auffallend viele Gäste singen auf dem Album mit. Saya von der japanischen Avant-Pop-Band Tenniscoats leiht dem Krautrock-Trip „Ship“, welches bereits im Sommer als Auftragsarbeit als EP veröffentlicht wurde, ihre Stimme. Und der US-Musiker Ben LaMar Gay singt in „Oh Sweet Fire“ mit einer eindringlichen Stimme ein Lied von zwei Menschen, die sich inmitten eines Black Live Matters Protestmarsches ineinander verlieben. Der Text war ursprünglich als Gedicht gedacht.

Trotz aller Störgeräusche und absichtlichen Disharmonien bleibt Vertigo Days äußerst melodisch, häufig melancholisch und erzeugt mit seinem warmen Sound ein wohliges Gefühl. Das Album ist ein unverwechselbares The Notwist Album und bietet trotzdem bei dieser Band noch nie gehörtest. Die Texte sind wie gewohnt knapp gehalten und transportieren (z.B. bei „Into the Ice Age“ oder dem bereits erwähnten „Oh Sweet Fire“) dennoch eine Haltung und Meinung. Ob Vertigo Days an Neon Golden oder Shrink ranreicht, wird die Zeit zeigen. Eine Steigerung zum letzten Werk Closer to the Glass ist es allemal. Und das perfekte Album zu dieser Zeit sowieso. Schließlich sollen wir alle zu Hause bleiben und Kontakte vermeiden. Mit Vertigo Days fällt das wesentlich leichter und macht mehr Spaß als ohne.


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