„Früher hätten wir Pop-Songs keine Chance gegeben“ – Turbostaat im Interview
Vor seinem Auftritt beim Hurricane Festival haben wir Jan Windmeier, den Sänger von Turbostaat, zum Interview getroffen.

Bremen/Scheeßel. Obwohl ihnen der ganz große Durchbruch bisher nicht gegönnt war, sind Turbostaat eine der beliebtesten und besten deutschen Punk-Bands. Auch nach 17 Jahren Bandgeschichte entwickeln sie sich weiter, schreiben fleißig Songs und touren unermüdlich. Vor ihrem Auftritt beim Hurricane Festival vor zwei Wochen, haben wir Sänger Jan Windmeier zum Interview getroffen.
Ihr seid als etablierte deutsche Band nicht dem Reiz verfallen, in eine Großstadt wie Berlin oder Hamburg zu ziehen.
Auf die meisten von uns trifft das zu. Zwei Bandmitglieder sind aber aufgrund der Liebe irgendwann in eine Großstadt gezogen, einer nach Berlin und einer nach Hamburg. Der Großteil wohnt also schon noch in Flensburg. Ich gehöre auch dazu.
Was macht für dich den Reiz an einer solchen, etwas kleineren Stadt aus?
Das Zurückkommen ist wunderbar. Man kommt von einer Reise wieder in einen sehr überschaubaren Ort mit Natur und vertrauten Menschen und Eindrücken. Flensburg hat eine angenehme Größe, denn du kannst an bestimmte Orte gehen, um keinen zu treffen, wenn du deine Ruhe haben willst. Du weißt dafür auch drei oder vier Punkte, an denen du sofort Freunde oder Bekannte triffst. Wenn du also Lust hast, irgendwen zu sehen ohne dich groß zu verabreden, gehst du zu diesen Punkten. In Berlin dagegen hast du freitags die Möglichkeit, dir 60 verschiedene Konzerte anzuschauen und das würde bei mir schon daran scheitern, dass ich mich gar nicht entscheiden könnte.
Inwiefern beeinflusst das Bandleben diese Einstellung?
Mit Turbostaat kommen wir sehr viel herum und sind gut 150 Tage im Jahr unterwegs. Dabei sammelt man Eindrücke, die man wieder mit nach Hause nimmt. Wenn ich meine Band nicht hätte wüsste ich nicht, ob ich noch in einer Kleinstadt leben würde oder ob ich nicht irgendwann Lust bekommen hätte, etwas anderes zu sehen.
Spielt ihr als Nordlichter lieber Konzerte in Städten wie Bremen oder Kiel oder lieben im Süden?
Tendenziell ist es für uns im Süden immer schwieriger. Wir sind eine Band, die seit 17 Jahren kontinuierlich tourt. Wenn wir in Husum oder Flensburg losfahren, ist jede Strecke weit, egal wo wir spielen. Bis nach Hamburg hat man schon zwei Stunden im Auto verbracht und da geht die Reise ja eigentlich erst los. Bei früheren Wochenendtrips konnten wir durch die Arbeit erst Freitagnachmittag losfahren. Da ist es einfach nicht möglich, noch bis nach Regensburg zu fahren und dort ein Konzert zu spielen. Deshalb haben wir uns anfangs sehr auf den nord- und mitteldeutschen Raum beschränkt. Das merken wir jetzt! Damals haben wir uns Leute erspielt, deshalb sind die Konzerte hier im Norden alle voller und intensiver. Je weiter wir in den Süden kommen, desto überschaubarer wird die Anzahl der Besucher. Das ist auch völlig in Ordnung. Aber in München werden wir niemals so viele Leute haben wie in Berlin.
Euer aktuelles Album „Abalonia“ ist sehr erzählerisch und tiefergehend aufgebaut. Wie hat sich eure Musik seit eurem Debütalbum vor 15 Jahren verändert?
Früher haben wir einfach gespielt, was gerade aus uns herauskam und verschiedenste Musikrichtungen vereint. Mittlerweile wissen wir aufgrund unserer Erfahrung, was beim Songwriting nicht gut funktioniert. Nicht in Songstrukturen gedacht, sondern beispielsweise in technischen Dingen oder an Timing beim Aufnahmeprozess. Wir kennen unsere Stärken und Schwächen, das macht den Aufnahmeprozess einfacher, denn wir können Fehlerquellen vermeiden. Beim Tonstudioaufenthalt zur ersten Platte hatten wir beispielsweise einen Schlagzeug-Beat, der aufgenommen gar nicht zum Bass gepasst hat. Vorher hat man es aber nicht gehört. Dann mussten wir uns im Studio schnell etwas anderes ausdenken. Das funktioniert auch, es ist aber nicht ideal in einem teuren Studio noch an Songs zu schrauben.
Würdest du sagen, dass eure Musik über die Jahre insgesamt etwas ruhiger geworden ist?
Das bleibt nicht aus! Wir sind jetzt alle fast 40, es sind Kinder auf die Welt gekommen und andere Lebensinhalte dazugekommen. Wir alle haben andere Menschen kennengelernt und das verändert nicht nur uns selber, sondern auch zwangsläufig die Musik. Unsere Musikgeschmäcker haben sich im Laufe der Zeit verändert. Wir können in dieser Altersmilde auch einen guten Pop-Song anerkennend loben. In unserer Jugend hätten wir so etwas nie gemacht, so als richtiger Punker. Da hätte man diesen Pop-Songs keine Chance gegeben.
Verliert man dadurch nicht die Direktheit und das Geballer, das direkt aus einem herauskommt?
Es verändert sich! Dennoch würden wir niemals Musik machen, um Leuten zu gefallen. Wir würden keinen Pop-Song schreiben, der einen tollen Refrain hat, den wir nicht gut finden, bei dem wir aber wissen, dass er funktioniert. Genauso ist es andersherum! Wir würden einen fertigen, schönen Song nicht noch mit einem Knüppelteil versetzen, nur weil wir eine Punkband sind. Wir geben einem Lied nach unserem Gefühl das, was es braucht. Wenn es dann ein instrumentaler Ausbruch oder geschriene Texte sind, dann gehört es zum Lied und ist wichtig dafür.
Euer Gitarrist Marten schreibt ja eure Texte und du trägst sie vor. Ist es für dich manchmal komisch seine Texte zu singen?
Das hat sich über eine lange Zeit im Proberaum entwickelt. Häufig werden wir auf unsere kryptischen, schwer zu verstehenden Texte angesprochen. Doch ich kenne Marten jetzt seit mehr als 25 Jahren, wir sind im gleichen Dorf groß geworden und haben die gleiche Sprache entwickelt. Daher habe ich persönlich sehr schnell Zugang zu seinen Texten. Zuerst stehen da ja nur Worte auf dem Papier. Wie die Intonation sein soll und mit welcher Intensität verschiedene Stellen gesungen werden, da lässt er mir komplette Freiheit. Es würde mir komisch vorkommen, wenn plötzlich jemand anderes Texte für mich schreibt. Deswegen tue ich mich auch immer schwer, wenn man Anfragen von anderen Bands bekommt, ob man auf deren Platte ein Feature mit ihnen macht, bei dem die Texte schon fertig sind. Das fühlt sich dann nicht so normal und aus mir raus an, als wenn Marten das schreiben würde. Seine Texte haben Hand und Fuß und ich bin total froh, dass er so ein Talent für diese Worte und diese Bildsprache hat.
Eure Texte sind sehr kryptisch und tiefergehend in den Ebenen. Glaubst du, es wäre mit einigen direkten Texte nicht einfach, noch ein größeres Publikum zu erreichen?
Das wäre sicher einfacher, aber im Endeffekt würde ich es sehr langweilig finden. Es gibt Bands, die können wichtige Parolen-Musik machen, doch so eine Band waren wir nie. Unser Stil hat sich so entwickelt und es ist zwar nie zu dem ganz großen Durchbruch gekommen, aber genau diese Art von Musik ist der Grund, weshalb wir es nach 17 Jahren noch machen. Leute finden die Musik gut oder nicht, aber auf jeden Fall denken sie über die Texte nach.
Damit schafft man sich als Band ja auch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal.
Auf einmal steht in der Musikpresse bei anderen Bands: „Klingt wie… Turbostaat.“ Ich finde das super, denn es zeigt, dass wir im Laufe der Zeit etwas geschafft haben und wahrgenommen werden. Wenn sich die Leute darüber ärgern, dass die Texte zu kryptisch sind und sie die Inhalte nicht verstehen, dann ist es leider unsere Art und Weise von Musik. Texte erklären sich entweder, oder sie erklären sich nicht. Entweder verstehen die Leute die Bildsprache, oder sie verstehen sie nicht. Das ist jetzt vielleicht ätzend, das so direkt zu sagen, aber so funktionieren wir halt. Ich glaube nicht, dass plötzlich mehr Leute ein Lied gut finden würden, wenn ich den Sinn des Textes erkläre.
Euer aktuelles Album heißt Abalonia und der titelgebende Song dazu auch. Was ist Abalonia speziell für euch, was interpretiert ihr in diesen Ort oder dieses Wort hinein?
Abalonia ist für uns ein anderes Wort für Ziel oder Endpunkt. Wir haben uns für Abalonia entschieden, weil es das Wort so nicht gibt. Die Leute werden darauf aufmerksam, suchen neugierig danach und finden nichts, nur das neue Album von Turbostaat. Im Endeffekt haben wir dann durch Interviews erfahren, dass mal jemand versucht hat, eine Sandbank von Kalifornien namens Abalonia zu einer Republik auszurufen, aber gescheitert ist. Das hat mit dem Album aber nichts zu tun. Für uns ist Abalonia ein Zielort. Im Endeffekt geht das Album ja um eine Reise und eine Reise beginnt man, weil man irgendwo hin will.
Ihr habt mittlerweise weit über 50 Songs veröffentlicht. Wie entscheidet ihr, welche davon ihr an einem Tag wie heute mit 45 Minuten Zeit spielt?
Uns ist wichtig, dass in einer Setlist nicht alle Lieder, die relativ gleichförmig sind, hintereinander gespielt werden. Wir möchten möglichst einen Spannungsbogen in unseren Auftritt einbauen. Das ist aufgrund von fünf unterschiedlichen Meinungen bei nur 45 Minuten Spielzeit und sechs Platten extrem schwierig. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, uns Meinungen anzuhören und es nicht zum Streit werden zu lassen, sondern einfach irgendwann okay zu sagen.
Ihr trinkt das doch aus, oder? Und wer am längsten durchhält, darf dann entscheiden?
Das denken viele und häufig kommen dann Fragen nach wilden Rockgeschichten. Tatsächlich sind wir aber mittlerweise fast 40 Jahre alt und eine unheimlich langweilige Band. Wir reden und diskutieren viel im Proberaum und trinken dabei dann eben Kaffee und Tee oder alkoholfreies Bier. Wir haben auf unserem Rider, und da sind wir wahrscheinlich die einzige Band auf diesem Festival hier, alkoholfreies Bier stehen. Wir sind nicht die großen Partylöwen.
Im Festivalsommer habt ihr ja noch einige Auftritte hier in der Nähe, beispielsweise beim Großefehn Open Air oder beim Oakfield Festival. Wie geht es danach für euch weiter?
Im Herbst spielen wir eine zweiwöchige Clubtour und auch im Dezember stehen noch einige Konzerte an. Im Januar kommen die größeren Zusatzkonzerte in Hamburg und Köln. Das restliche Jahr sind wir also noch viel unterwegs. Im Februar ist dann erstmal Schluss, etwa bis zur nächsten Sommersaison. Da werden wir dann hier und da noch Festivals spielen, aber wir haben geplant, im Februar erstmal eine kleine Pause zu machen.
Bis dann irgendwann das nächste Album kommt?
Genau, wir werden auch wieder anfangen, an Liedern rumzuschrauben. Wir spielen gerne live und sind total gerne unterwegs, aber es tut auch ganz gut, einfach mal einige Wochen zu pausieren. Anschließend hat man dann wieder richtig Bock! Natürlich verschleißt man sich etwas. Wenn man jeden Abend die gleiche Setlist spielen würde, dann kommt der Punkt, wo du dich irgendwann bei einem Lied im schlimmsten Fall dabei erwischt, über die Einkaufsliste der nächsten Woche nachzudenken. Obwohl du gerade auf der Bühne stehst und ein Konzert spielst. Das ist ein Punkt, da muss man aufpassen, dass man sich nicht selber langweilt.
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