Zeit für einen neuen Werder-Weg

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Bremen. Hier in Bremen ist man gemeinhin stolz auf den sogenannten „Werder-Weg“ und die „Werder-Familie“. „Hier werden Stars gemacht und nicht gekauft“ und „kein Geld der Welt wird hier verschenkt, verschwendet oder falsch gelenkt“, so wird es im Weserstadion gesungen. Werder engagiert sich stark im sozialen Bereich, kann in Krisenzeiten auf seine Fans zählen, besetzt wichtige Positionen im Verein mit verdienten fußballsachverständigen Ex-Spielern und hält länger als andere Bundesligisten am Trainer fest. Klingt fast zu romantisch, um wahr zu sein und bei genauerer Betrachtung ist es das auch nicht mehr.

In Bremen hat sich in den fetten Jahren nach 2004 eine Erwartungshaltung entwickelt, die schwer aus den Köpfen der Fans zu bekommen ist. „Eigentlich müssten wir um die internationalen Plätze mitspielen.“ Marktwert des Kaders, Transferausgaben, Statistiken und in erster Linie das Spiel der Mannschaft sprechen da eine andere Sprache. Von den oben genannten Bremer Pluspunkten ist das soziale Engagement, die enge Verbindung zu verdienten Werderanern und in Teilen die Krisenfestigkeit der Fans übrig geblieben. Um bei den Fans anzufangen, reicht die Geräuschkulisse des gestrigen Sonntagnachmittags. „Nouri raus“, „aufhören“, „oh, wie ist das schön“… die Wut über das maximal ernüchternde Spiel auf dem Platz entlud sich in der Form, die es angeblich in Bremen nicht gibt. Man darf aber nicht vergessen, dass wenige Schreier lauter als viele Schweiger sind und es gab auf den Rängen diverse Diskussionen und Pöbeleien, da man „Nouri raus“ keinesfalls als Konsens unter den Werderfans bezeichnen konnte. Es ist aber offensichtlich auch in Bremen so, dass sich Stadionbesucher hämisch an Mannschaft und Trainer abarbeiten und sich dadurch besser fühlen wollen. Mein Verständnis haben diese Stadionbesucher für ihre Enttäuschung, die Wut, die Trauer – nicht aber für die Häme. Derartiges Verhalten hat nichts damit zu tun, Fan einer Fußballmannschaft zu sein.

Enttäuscht bin ich ebenfalls, zum wiederholten Male in dieser Saison und in den letzten Jahren und ich habe gestern schon gesagt, dass Werder an einem viel gefährlicheren Punkt steht, als in der Geburtsstunde der #greenwhitewonderwall, ebenfalls nach einer Heimniederlage gegen Augsburg, im Frühjahr 2016. Damals hatten wir Fans das Gefühl, dass wir mit positiver Unterstützung und einem grünweißen Weckruf durch die ganze Stadt für die restlichen 5% sorgen können, die der Mannschaft damals immer wieder fehlten. Gestern musste ich feststellen, dass wir Fans heute viel mehr bringen müssten und gefühlte 80% sind einfach unrealistisch, zumal es als Werderfan schwer fällt, positive Stimmung zu verbreiten. Dafür fehlen einfach die Ansätze im Spiel der Mannschaft.

Liegt die Schuld daran aber in erster Linie beim nun entlassenen Trainer Alexander Nouri? Um nochmal die oben genannten positiven Werderpunkte der Vergangenheit aufzugreifen – was ist denn davon geblieben? Einen Star zu machen, den man dann gewinnbringend weiterverkaufen kann, ist heutzutage wahnsinnig schwer für einen Verein von Werders Kaliber, da das Scouting der großen Clubs bereits beim Kinderfußball auf Hochtouren läuft und Werder höchstens noch in den zweifelhaften Genuss kommt, einen Gnabry oder einen De Bruyne für ihre „höheren“ Aufgaben weiterzubilden. Um das Geld zu fassen, das in Bremen in den letzten 15 Jahren verschwendet oder falsch gelenkt wurde, müsste ich ausgiebig am eigentlichen Thema dieses Textes vorbei schreiben und am Trainer hat man nun mal wieder nur ein knappes Jahr festgehalten. An eben diesem Trainer, den wir im Frühjahr für seine offene, unbekümmerte und fannahe Art gefeiert haben. Der sich gegen die AfD positioniert, Fotos vor Fankneipen gemacht und Werder sportlich und abseits des Platzes ein positives Gesicht zum Gernehaben verpasst hat. Natürlich hat Alexander Nouri auch fachliche Fehler gemacht, aber einen Nachwuchstrainer zu engagieren und darauf zu hoffen, dass dieser mit den geringsten Investitionen der Liga fehlerfrei den Durchmarsch in die Champions League startet, ist schlichtweg naiv und so wird auch Werders Chefetage nicht gedacht haben.

Es stellt sich die Frage, was mit dem aktuellen Werder-Weg, der irgendwo auf Messers Schneide zwischen dem großen Fußballkapitalismus mit Investorengeldern und der familiären Fußballrunde an der Weser verläuft langfristig zu erreichen ist. Ich bin der Meinung: Es ist Zeit für einen neuen Werder-Weg. Ein Umdenken bei Werder? Das klingt für viele Leute wahrscheinlich erstmal nach dem Verkauf des Stadionnamens, dem Einstieg eines Großinvestors, dem Engagement von Tuchel oder Ancelotti in Bremen und sechs fetten Wintertransfers. Für mich klingt das eher nach Freiburg oder St. Pauli und einer klaren Absage an die Auswüchse des modernen Fußballs, die in Fankreisen nicht umsonst kritisch beurteilt werden.

Im aktuellen Konstrukt Bundesliga wird Werder mit der bisherigen Handlungsweise langfristig immer gegen den Abstieg spielen, mein Gefühl ist leider, dass es schon in dieser Saison nicht mehr reicht, weil Werder einfach vom modernen Fußball abgehängt wurde und diesen Umständen als maßvoll investierender Bundesligist nicht mehr gewachsen ist. Man hat es hier aus absolut verständlichen Gründen versucht, so lange wie möglich mitzuhalten und sich dafür den Regeln des Geschäfts unterworfen. Marketingstürmer aus China mit den dazugehörigen Sponsorenverträgen, ein Hauptsponsor entgegen der Werte des Vereins und nun die nächste Trainerentlassung.

Letztes Ergebnis dieses Weges ist ein Heimspiel gegen Augsburg mit einer 0:3 Niederlage und dem so ziemlich übelsten Fußball, den ich in 30 Jahren im Weserstadion gesehen habe. Auffällig dabei, dass unsere Spieler regelmäßig einen Schritt zu spät kommen, die Abpraller beim Gegner landen, Zweikämpfe zu spät oder gar nicht geführt werden und einfach die nötige Handlungsschnelligkeit fehlt. Diese Defizite kann ich nicht auf schlechtes Training zurückführen, da die meisten unserer Spieler bereits gezeigt haben, dass sie auch anders können. Wenn ich mich in einen Profifußballer hineinversetze, für den sein Sport eben nicht zuallererst Sport und Vereinsliebe, sondern auch Beruf, Lifestyle, Status und Altersvorsorge ist, dann kann ich psychologisch nachvollziehen, wieso es manchmal nicht reicht. Vielleicht hältst du dich als Spieler für ein wenig besser als du wirklich bist, vergleichst die von Werder zur Verfügung gestellten Mitspieler mit denen deiner Kollegen aus Gelsenkirchen oder Wolfsburg und bist dir bewusst, dass du abseits der großen Überraschungen auch in dieser Saison wieder gegen den Abstieg spielen wirst. So ein Motivationsloch konnte Nouri in der vergangenen Saison durch tolle Arbeit stopfen – das nachhaltig zu erreichen, ist aber verdammt schwer, wenn die Ziele immer wieder verfehlt werden, da andere Vereine nicht nur auf dem Spielfeld immer schnellere und größere Schritte machen können.

Ich wäre mit Alexander Nouri notfalls in die 2. Liga abgestiegen und hätte ihm die Chance gegeben, einen Kader aufzubauen, der sich zu 100% mit einem neuen Werder-Weg ohne das erklärte Ziel Europapokal und ohne des Verbleibs in der 1. Bundesliga um jeden Preis identifiziert. Vielleicht bekommt nun Florian Kohfeldt diese Chance. Solide Nachwuchsarbeit mit guten Einsatzchancen für junge Spieler in der 1. Mannschaft, mehr Bargfrede und Bartels und weniger Elia, größere Beteiligung der Fans, Festhalten am sozialen Engagement und mehr Beständigkeit wären da ein gesundes Gerüst für die Zukunft. Klar und offen kommuniziert hat so ein Konzept nach meinem Empfinden auch die Chance, von den Bremerinnen und Bremern akzeptiert und mitentwickelt zu werden. Traurig wäre es natürlich, wenn Werder damit kein dauerhafter Erstligist mehr sein könnte – die Chance für eine nachhaltig positive Entwicklung schätze ich mit außergewöhnlichen sympathischen Merkmalen aber höher ein, als wenn man sich weiterhin im Hamsterrad Bundesliga dreht und das Spiel der Großen so weit man es kann mitspielt. Sofern die Blase Profifußball nicht bald platzt, wird beim bisherigen Vorgehen die Schere zum großen Geld immer größer und das Dasein als Werderfan, -spieler, -trainer und -manager immer unbefriedigender werden.

Mehr Spaß, mehr Herzblut, mehr Identifikation mit dem Verein, mehr Alleinstellungsmerkmal und langfristig die größere Überlebenschance im erst- und zweitklassigen Fußball bietet aus meiner Sicht der Tritt auf die Bremse und die Besinnung auf einen authentischen Werder-Weg, der entspannt auf dem Fahrrad mit Pils in der Hand, seinen Kurven, Umwegen, Schlaglöchern und dem Weserblick wesentlich befriedigender ist, als gestresst und energydrinkangetrieben mit dem SUV über die Autobahn zu ballern.

 


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