Derbywoche. Wichtiger als Sonnabend geht kaum und doch ist es „nur“ Fußball.

Bremen. Spiele gegen den HSV sind für Werderfans immer speziell. Man erinnert sich gerne an große Siege, Papierkugeln, Tim Wiese, den Kantersieg kurz vor der Meisterschaft 2004 und streicht bittere Niederlagen aus dem Gedächtnis. Diese Saison hat das ohnehin besondere Spiel Vorzeichen, die es aus meiner Sicht zum für Werder wichtigsten Spiel seit dem Nichtabstieg 2016 gegen Eintracht Frankfurt machen.
Vorzeichen 1: Der Blick auf die Tabelle.
Werder steht auf Platz 15 punktgleich mit dem 16. Mainz und hat 6 Punkte und 9 Tore Vorsprung auf den HSV. Ein Sieg würde 9 Punkte und mindestens 11 Tore Vorsprung bedeuten, was bei dann 10 verbleibenden Spielen nur mit einer beispiellosen Hamburger Serie noch aufzuholen wäre. Ein Unentschieden würde den Vorsprung konstant bei 6 Punkten halten und bei einer Niederlage wäre der HSV wieder auf 3 Punkte und ein paar Tore dran an Werder. Es geht also darum, den Erzrivalen ganz nah an den Rand des Abstiegs zu bringen und sich selbst ein komfortables Polster auf die direkten Abstiegsplätze zu verschaffen. Wenn Werder dieses Spiel gewinnt, steigt der HSV mit großer Wahrscheinlichkeit am Ende ab und wo man in den Vorjahren Schiedsrichter Gräfe, Schalke 04 oder andere dunkle Mächte für den Klassenerhalt des HSV verantwortlich gemacht hat, wäre man dieses Jahr im Falle einer Niederlage tragischerweise selbst Schuld, wenn man es in Hamburg doch wieder packt.
Vorzeichen 2: Hamburg zwischen Selbstzerstörung und Hoffmann-Aufbruchstimmung.
„Bevor die Uhr ausgeht, jagen wir euch durch die Stadt!“ Dieses Banner hing während der Heimniederlage gegen Leverkusen lange mittig vor der Hamburger Fankurve. Einige Zuschauer unterstrichen die Worte noch durch einen versuchten Platzsturm. Selbstzerstörungsmodus an, 2. Liga – Hamburg kommt. Bekanntlich kann ich derartige Anfeindungen gegen die eigene Mannschaft in keiner Situation verstehen und habe gehofft, dass wir mit der #greenwhitewonderwall Aktion auch über Bremen hinaus mehr Verständnis dafür gewonnen hätten, was positiver Support im Vergleich zu Beschimpfungen und sogar Drohungen bei einer vom Abstiegskampf gebeutelten Mannschaft an Kräften freisetzen kann. In Hamburg scheint das noch nicht in Gänze angekommen zu sein, wobei ich betonen will, dass sich andere HSV-Fans zahlreich negativ über dieses Banner geäußert haben. Die Zerrissenheit des HSV zeigt außerdem die Wahl von Bernd Hoffmann zum neuen Vereinspräsidenten, welche von „Hoffmann raus“-Rufen begleitet wurde. Der frischgewählte Präsident musste am Ende von Sicherheitskräften begleitet werden. Dennoch versprüht dieser Neustart bei einigen HSVern eine gewisse Aufbruchstimmung – angeheizt durch Hoffmanns Rede mit den Worten: „Schon nächsten Samstag kommen wir mit 4.000 oder 5.000 Hamburgern nach Bremen. Dann werden wir dort ordentlich aufmischen.“
Vorzeichen 3: Explosive Stimmung.
Ich halte Bernd Hoffmann nicht für einen dummen Menschen. Vor einem Derby, bei dem es um derart viel geht, von „aufmischen“ zu sprechen und die Stimmung unnötigerweise zusätzlich aufzuheizen, ist allerdings ziemlich dumm – Wahlkampf hin oder her. Die Bremer Polizei lässt die Hamburger Fangruppen erfahrungsgemäß nach Bremen anreisen und hält sie nicht irgendwo auf der Strecke auf, wie es umgekehrt seit einigen Jahren passiert – es werden also in der Tat gute 5.000 Hamburger nach Bremen kommen, denen das Wort „aufmischen“ ihres neuen Präsidenten vielleicht noch im Ohr ist. Hinzu kommt die oben beschriebene Tabellensituation, der Hamburg-interne Sprengstoff und der Ärger über die zuletzt verpassten Nordderbys auf Bremer Seite. Unter diesen Bedingungen auf ein friedliches Derby zu hoffen, fällt mir einigermaßen schwer. Es wäre ein starkes Zeichen beider Seiten, wenn man sich auf den Fußball konzentrieren würde – da hat man nämlich bis Mai mehr als genug mit zu tun.
Vorzeichen 4: Es geht für Werder darum, den guten Trend zu retten.
Es hilft herzlich wenig, wenn Sky-Experten Werders Fußball unter Florian Kohfeldt in den Himmel loben und trotzdem die Punkte ausbleiben. Zuletzt wurde auf Schalke und gegen Wolfsburg gewonnen, dann in Freiburg verloren – ein Sieg gegen den HSV würde den positiven Trend retten und zusätzlichen Schwung im Abstiegskampf bringen. Einer weiterer Rückschlag auf die Stimmung wäre nicht nur für das aktuelle Punktekonto höchst ärgerlich, sondern auch für die kommenden Wochen.
Wichtiger als Sonnabend geht kaum und doch ist es „nur“ Fußball…
Dieses Nordderby hat also trotz 15. gegen 17. das Prädikat „Topspiel“ am Samstagabend verdient. Ein ganz simples Bundesligaspiel mit vergleichbaren Emotionen und ähnlich viel auf dem Spiel für beide Mannschaften und Fanlager muss man lange suchen. Trotzdem wäre das bitterste Ergebnis dieses Nordderbys ganz unabhängig vom Resultat auf dem Platz, wenn man hinterher über unschöne Begleiterscheinungen und nicht über den Fußball sprechen würde. Es ist schließlich „nur“ Fußball und der rollt auch diese Saison noch für 10 Spieltage durch die Bundesliga, bevor dann hoffentlich ohne vorherige Jagd durch die Stadt eine gewisse Uhr ausgeht oder wie gehabt nach der Relegation weiter läuft.
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