Jule – Im Regio weinen, Zeitstrafe 2024

Jule ist das neue schwarze Sternchen am St. Pauli Singer-Songwriter Punkhimmel. Heute erscheint die Debüt-EP.

„Es ist schon besser, im Taxi zu weinen, als im HVV-Bus“, hieß es bei Kettcar vor mehr als 20 Jahren. Damit hatten die Hamburger einen Punkt. Traurigkeit sollte ja erstmal möglichst privat sein. Ich weiß nicht, ob es geografische, ökonomische Gründe oder eine Mischung aus beidem ist, dass Jule nun im Regio von irgendwo nach irgendwo weint, wenn bei „Alles wie immer“ eine geliebte Person vermisst wird. So privat und intim das Vermissen in dem Song auch beschrieben wird, ein Detail bleibt aus und macht den Song so universeller. Klar ist nur, zwei Menschen sind getrennt und eine:r (Jule) bleibt alleine zurück. Den Grund der Trennung behält Jule aber für sich. Handelt es sich um das Ende einer Liebesbeziehung? Ein Umzug? Der Tod, gar ein Suizid? Wir wissen es nicht. Es bleibt privat. Nur der Schmerz, der diese Trennung verursacht, wird thematisiert. Da wirkt „Nähe und Distanz“ fast als sowas wie eine Fortsetzung, wenn eine Person nicht mehr entscheiden kann, was sie möchte, Nähe oder Distanz, weil weder mit noch ohne jemanden weitergemacht werden kann. Und diese Ambivalenz, dieses Nichtwissen macht eine:n fertig. Dabei will diese Person ja eigentlich nur gerettet werden, selbst wenn die helfende Hand immer wieder weggestoßen wird. Sowohl „Alles wie immer“ als auch „Nähe und Distanz“ werden lediglich von einer leise gepickten bzw. geschlagenen Lo-Fi-E-Gitarre begleitet. Im Vordergrund steht Jules zerbrechliche Stimme. Und nichts weiter bedarf es, um tiefe Gefühle in große Songs zu packen. Zumindest geht es musikalisch im dritten Song „Ganz leicht“ im Pillensmasher etwas schreddiger zu, wenn Drogen und (betäubende) Medikamente gegenübergestellt werden, was ja nur bedeutet, trotz aller (musikalischer) Unbekümmertheit handelt es sich um Antidepressiva. Darüber kann selbst ein kurzes Auflachen vor dem letzten Refrain nicht hinwegtäuschen. Und wann war es eigentlich das letzte Mal gut, fragt Jule im darauffolgenden Song „Ich bekomme keine Luft“ und offenbart, dass sie Angst vor allem hat. Die Tagesplanung kann überfordernd sein. Was bleibt da noch, außer Musik zu machen? So dringlich und ehrlich wie möglich. Wer sich so verletzlich zeigt, so angreifbar, ist im Kern stark. Selbst, wenn die Person es selber nicht sehen will. Der/Die flüchtet sich zwar zum Selbstschutz in Nihilismus, denn „alles ist so egal“. Dabei wird im zweiten Gitarrenschrammler auf dieser EP ebenfalls eine Ambivalenz zwischen Aufgeben und Gestalten aufgezeigt und wie schwierig es ist, sich aufzuraffen, wenn doch alles so egal ist. Das kann sehr erschöpfend sein. Kurz vor der Aufgabe ist Jule in „Bis zur Erschöpfung“ oder anders gesagt: „Immer zu viel oder zu wenig… in mir“. Wie viele Menschen sich wohl jeden Tag so fühlen? Und wie viele von ihnen werden es zugeben und offen darüber sprechen? Alleine dafür bin ich Jule an dieser Stelle dankbar, dass sie diese Songs geschrieben und den Mut gefunden hat, sie zu veröffentlichen. Und auch wenn all diese Gefühle nachvollziehbar sind, in diesen überfordernden Zeiten, möchte ich rufen: Alles wird gut! Es ist nicht das Ende, es kann ein Anfang sein. Klar, Jule spricht für ihre Generation, aber auch ein zwanzig Jahre älterer Typ findet etwas in diesen Texten und dieser (tollen) Musik. Und wenn in dieser Besprechung (Empfehlung!) schon zwei Kettcar-Zitate eingebaut sind, möchte ich auch so enden: „Denn es gibt hier einen, der kannte das auch mal und wünscht Glück.“

„Im Regio weinen“ ist heute bei Zeitstrafe erschienen.

 


Mehr Beiträge aus" Musik" zur Startseite

Jule – Im Regio weinen, Zeitstrafe 2024 teilen auf: