Die perfekte Druckwelle

Mach laut, mach leise - Die Nerven und Shitney Beers haben am Mittwoch im ausverkauften Tower Musikclub gespielt.

Foto: Marcel Kloth

Bremen. Glücklich konnte sich schätzen, wer vergangenen Mittwoch noch eines der letzten Tickets für das Konzert des Punk-Trios Die Nerven im Tower Musikclub ergattern konnte. Die Kritikerlieblinge haben mit ihrem neuen, selbstbetitelten Album den Club ausverkauft, was in heutigen Zeiten eine beachtliche Leistung ist. Eine weit düsterere Bestandsaufnahme von sozialer Kälte, Gleichgültigkeit, Überforderung und fehlender Menschlichkeit, präsentiert die Stuttgarter Gruppe dagegen textlich. Es war ein starker Abend voller Kontraste, was schon mit der sehr gut ausgewählten Vorband begann.

Voract ist der wohl treffendere Begriff, denn Shitney Beers ist eine junge Solokünstlerin aus Mannheim. Anders als Assoziationen mit dem bloßen Künstlernamen der Halb-Kanadierin Maxi Haug möglicherweise vermuten lassen, ist sie eine Singer-Songwriterin, die solo mit E-Gitarre ruhige Musik macht. Mit lockerer Ironie gibt sie Einblicke in ihr neues Album „This is Pop“, das am 9. Dezember beim Grand Hotel van Cleef erscheint. Heute ist sie in einer ganz anderen musikalischen Welt als Die Nerven unterwegs, trotzdem passen die traurigen, melancholischen und englischsprachigen Songs gut hierhin. Vor ihrem Release spielt sie sogar nochmal im Tower – am 4. Dezember als Support für Thees Uhlmann bei dessen bereits ausverkaufter Clubshow.

Auf die aufgewärmten, eng stehenden Besucher*innen trifft eine Welle aus Druck und Energie als Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn ihre Instrumente nach der Eurovisions-Hymne als Intro in die  Hand nehmen und mit dieser bitterbösen, aber genialen Einleitung übergehen zur Single „Europa“, die den proklamierten Gedanken an Menschlichkeit, Moral und Solidarität in die bittere Realität einordnet: „Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie.“ Vom Großen ins Kleinere, vom Kontinent ins Land des eigenen Wohnsitzes geht es mit dem zweiten Stück „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“. Die Motive sind klar. Soziale Kälte im Inland wie an den Grenzen legt sich thematisch wie eine Klammer um die Texte der Nerven. Hoffnung? Aussicht auf Besserung? Fehlanzeige.

Das subtile „Keine Bewegung“ behandelt gedankliche Lähmung und Antriebslosigkeit durch Überforderung und Ängste: „Ich könnte überall hingehen, aber kann mich nicht bewegen“. Treffende Verse, große Aussagen, ehe mit „Alles reguliert sich selbst“ wieder ein brachialer Post-Punker vorgetragen wird. Die ersten vier Stücke sind exakt die ersten vier Songs des neuen Albums, insgesamt acht Stücke von „Die Nerven“ werden gespielt, sieben Nummern von den vier Alben davor – es ist nahezu eine Full-Album-Show mit dem früheren Best-Of aufgefüllt.

Für Die Nerven ist es das dritte Konzert in Bremen – was viele nicht wissen, das Live-Album „Live in Europa“ aus 2017 ist fast ausschließlich der Bremen-Auftritt der damaligen Tour. Nach gut 45 Minuten und einer ausgiebigen Schlagzeug-Improvisation bilden sich doch noch Moshpits bei „Der Erde gleich“ – hier wird nicht nur Atmosphäre bewahrt, hier wird Staub aufgewirbelt. Neben Texten und Musik wird das Konzert geprägt von einem sehr guten Sound, passender Lichtshow mit Schattenspielen zu den instrumentalen Phasen und Wechselgesang zwischen drei starken Charakteren und leidenschaftlichen Musikern mit enorm kreativen Output. Schlusspunkt des Konzerts ist der letzte Albumtitel „180 Grad“, der eine düstere Zukunft ins Hier und Jetzt holt. Willkommen in der Realität.

 


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