Red‘ nicht von Konzerten, nicht von Livestreams

Eine vorsichtige Annährung an ein Leben ohne Konzerte.

Claas Platte

Bremen. Ich wundere mich eigentlich jeden Tag über neue Konzertankündigungen von Bands, selbst wenn diese Shows in einer weitentfernten Zukunft liegen. Mein letztes Konzert fand am 10. März 2020 in London statt. Das ist beinahe ein Jahr her und ich merke, wie ich mich an ein Leben ohne Livemusik gewöhne. Denn ich glaube nicht daran, dass wir dieses Jahr im Sommer lustig auf Festivals rumhüpfen werden. Da mögen die Veranstalter vom Hurricane Festival an Hygienekonzepten arbeiten und Informationen teilen, wie sie wollen. Ich kann den Gedanken dahinter verstehen, aber alles was diese Welt nicht braucht, sind nun mal Großveranstaltungen und Menschen, die durch die Gegend reisen. Internationalen Tourismus zu ermöglichen war bereits im Sommer 2020 ein großer Fehler, der mitverantwortlich für die zweite Welle war. Und auch in diesem Herbst wird es nicht die Möglichkeit geben, in einem Club, dicht gedrängt, schwitzend, singend, zu stehen. Dafür werden spätestens die gestern Nachmittag neu bekannt gewordene Mutation aus den Britischen und Südafrikanischen Mutationen sorgen, die wohl gegen, so der bisherige Wissenstand, gegen bereits gebildete Antikörper immun sind. (Spiegel / FAZ)

Sobald wir, die klassische Altersgruppe der Konzertgänger*innen werden wohl zuletzt geimpft werden können, im Herbst das berühmte Impfangebot bekommen, wird das Virus sooft mutiert und resistent sein gegen die Impfstoffe, dass die ganze Chose vom Neuen beginnt. Das ist jedenfalls meine feste Überzeugung. Belegen kann ich das nicht, bin kein Mediziner und es bleibt für uns alle zu hoffen, dass es nicht so eintritt. Aber ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es ein „Nach-Corona“ geben wird. Die Welt wird nicht mehr die Gleiche sein. Und ich ertappe mich dabei, dass ich das gerade gar nicht mehr als schlimm erachte. Dabei gehörten Reisen und Konzerte zu meiner Identität. Ich habe in meinem Leben sicherlich 1000 Shows gesehen, selbst im Jahr 2020 komme ich in nur 2,5 möglichen Monaten (und im Januar war ich nicht auf einem einzigen) auf sieben oder acht Konzerte. Immerhin waren zwei von meinen drei Lieblingsbands dabei. Zumindest könnte ich meinen Frieden mit dem Erlebnis Liveshows machen.

Seitdem bleiben nur noch Livestreams. Bot diese Form von Unterhaltung anfangs etwas Abwechslung, so nutzte sich das ganze übers Jahr 2020 verteilt wieder ab. Als erstes reagierte Frank Turner auf die neuen Umstände und streamte einen Fundraiser am 26. März 2020 aus seinem Wohnzimmer, was bis in den Sommer zu einem wöchentlichen Ritual wurde. Jesse Malin fing zur selben Zeit an und spielte parallel zu Turner am Donnerstagabend und eine weitere Show aus seinem New Yorker Apartment am Samstagabend. Kurz darauf folgte mit einem Tag- und abendfüllenden Programm das Booze Cruise Festival im April. Es war eine tolle Ablenkung von der Monotonie des ersten Lockdowns. Sieben weitere Auflagen sollten folgen, die letzte kurz vor Weihnachten. Stets schwang die Hoffnung mit, dass es sich lediglich um eine vorübergehende Sache handelt, im Herbst würde schon wieder was gehen oder halt im nächsten Jahr. Aber Pustekuchen. Livestreams laufen noch immer. Und werden wahrscheinlich auch nicht mehr verschwinden. Selbst wenn richtige Konzerte in Zukunft doch wieder stattfinden können, warum sollten die Menschen auf der ganzen Welt nicht daran teilhaben können?! Aber als alleinige Möglichkeit „live“ dabei zu sein, ist es doch zu ermüdend, gegen den Fernseher anzuschreien.

Seit meinem letzten Konzert bin ich ein Jahr älter geworden und so wie ich es einschätze, werde ich bis zu meinem nächsten (möglichen) Konzert ein weiteres Jahr älter sein. Hier liegen noch immer irgendwo zwei Tickets für Turbostaat im Schlachthof rum. Hoffentlich finde ich die überhaupt wieder, falls das Konzert doch noch mal stattfinden sollte. Ursprünglicher Termin war im April 2020. Dann wurde das Konzert auf Februar 2021 verlegt, was damals im ersten Moment absurd weit weg klang, sich dann aber schnell als cleverer Schachzug herausgestellt hat, wie das Jahr 2020 bewies. Mittlerweile ist das neue Datum ins Jahr 2022 gelegt worden. Ausgang weiterhin offen.

No Future hieß es früher bei den Punks. Sie wussten nicht, wie sehr sie damit recht behalten sollten.

P.s. Wer von der Überschrift das Original ableiten kann und sich meldet bekommt was geschenkt.
(Edit: Geschenk ist weg! Es handelt sich um das Flowerpornoes Album Red nicht von Straßen, nicht von Zügen. Sollte jeder sein eigen nennen!)


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