Die Alben des Jahres 2022 – von Marcel

Ein persönlicher Rückblick auf die neu erschienenen Studioalben der vergangenen zwölf Monate - von Headlinern, bis Newcomern, mit Platzierungen.

Frank Turner. Foto: pfa

Bremen. Das musikalische Jahr 2022 war geprägt durch die finale Rückkehr von Live-Musik auf die Bühnen – bei Clubshows, in Hallen und auf Festivals. Doch aus verschiedenen Gründen steckt die Branche in der Krise, immer mehr Auftritte werden aufgrund mangelnder Ticketverkäufe abgesagt. Für die Hintergründe sei jedem dieser aktuelle Beitrag von Arte empfohlen. Dazu einleitend der Appell: Sofern möglich – geht mehr auf Konzerte, unterstützt die kleinen Bands, die Clubkultur. Im Rückblick auf die besten Erscheinungen und Neuheiten der letzten zwölf Monate, sind zu viele starke Alben für eine Top-10 erschienen. Um euch an meiner Lieblingsmusik teilhaben zu lassen und einige Tipps zu präsentieren, gibt es deshalb wie schon für 2021 die Top-20-Alben des Jahres. Wie gewohnt findet ihr hier zu jeder Platte ein wenig Text und ein Musikvideo. Viel Spaß beim Lesen, Hören und Entdecken!

20. Blood Red Shoes – Ghosts On Tape

Das britische Duo entwickelt sich auch mit dem sechsten Album stetig weiter und fügt dem Alternative-Rock diesmal Blues-Referenzen und elektronische Elemente hinzu. Das funktioniert schon auf Platte super und ergibt live ein dreckiges Lärminferno im besten Sinne mit absoluter Spielfreude und bemerkenswerter Energie

19. Lyschko – Brennen

Ein Trend des Jahres ist der deutschsprachigen Musiklandschaft war die „neue neue deutsche Welle“. Lyschko lassen in ihr Debütalbum New Wave, Post-Punk und Indie-Rock einfließen. Explosiv, überraschend, frisch und unverbraucht kommt „Brennen“ daher. Die Musik brennt sich bei den Hörenden tatsächlich schnell ein und ist am besten im kleinen, dunklen, vernebelten Kellerclub angesiedelt.

18. Shoreline – Growth

Die vierköpfige Band aus Münster bewegt sich auf ihrem zweiten Longplayer im emotionalen Indie-Punkrock. Zwischen verträumtem Gesang und kraftvollem Geschrei bieten sie musikalische Vielfalt mit ernsten Themen wie Veganismus, Konsumkritik sowie persönlichen Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung.

17. Brutus – Unison Life

Das belgische Trio schraubt auf „Unison Life“ einmal mehr die Dynamik hoch und erschafft ein individuelles Klangbild mit Elementen aus Post-Rock, Indie, Punk, aber auch Metal und Hardcore. Dynamische, energetische und mitreißende Musik mit der Besonderheit, dass Drummerin Stefanie Mannaerts gleichzeitig den aggressiven Klargesang auf konstantem Anschlag übernimmt.

16. The Dangerous Summer – Coming Home

Das ideale Album für die manchmal einsetzende Herbstmelancholie – laut und hymnisch und dennoch nachdenklich und emotional. Der melodieverliebte Alternative-Rock des US-amerikanischen Duos kann Gefühle verstärken und neue Hoffnung aufbauen. Eine hierzulange noch recht unbekannte Band, die es sich definitiv zu entdecken lohnt.

15. Razz – Everything You Will Ever Need

Seit Jahren zählen Razz zu den Dauerbrennern im persönlichen Streaming-Jahresrückblick. Nach fünf Jahren gibt es von den Berlinern nun musikalischen Nachschub im Albumformat, der Indie-Rock hat dabei eine gehörige Portion Pop-Appeal und Eingängigkeit dazubekommen, wie gemacht für sonnige Stunden am Meer oder sommerliche Festivaltage.

14. Provinz – Zorn & Liebe

Provinz entwickeln sich auf ihrem Zweitwerk weiter und behalten sich ihre Liebe und Leidenschaft zur Musik bei. Im jugendlichen Aufbruch rufen sie dazu auf, Grenzen auszutesten und Gewohnheiten aufzubrechen, können inhaltlich aber auch richtig tiefgehend und intensiv werden. Neben thematischer und musikalischer Vielfalt, hält das Album gelungene Gastauftritte von Danger Dan, Casper und Nina Chuba bereit.

13. Emma6 – Alles Teil des Plans

Das deutschsprachige Trio fügt drei EPs zu einem Album zusammen und setzt sich in elf Songs mit Themen wie Hoffnung, Freundschaft, Überforderung und Liebe auseinander – ein passender Soundtrack für viele Lebenslagen. Sehnsuchtsvoller Indie-Pop, der nachdenklich, intensiv und schonungslos ehrlich ist.

12. Mia Morgan – Fleisch

Das Debütalbum von Mia Morgan fügt sich in das „80s-Revival“ zwischen Synth-Pop und Pop-Rock ein. Wütend, feministisch, gekonnt unangestrengt und bewusst plakativ geht es in oft luftig-leichter Musik thematisch ans Eingemachte: Selbstermächtigung, Schönheitsideale, Trauma, Depressionen und Empowerment – Pop mit Message und klarer Haltung.

11. The Faim – Talk Talk

Die australische Pop-Rock-Gruppe hat mitten im Sommer ein rockiges, adrenalingeladenes Zweitwerk vorgelegt. Ihre energetischen Beats und einprägsamen Refrains bleiben im Ohr, die treibenden Hymnen haben sie mit Produzenten auf der ganzen Welt aufgenommen, sodass der Sound verschiedene Stile und die ganze Bandbreite des Quartetts präsentiert.

10. Palaye Royale – Fever Dream

Die um drei Brüder formierte Gruppe aus Las Vegas macht Musik, die laut und packend, gleichzeitig aber so glitzernd und bunt wie ihre Heimatstadt ist. Ob man die Songs als Fashion-Art-Rock, Glam-Rock oder Indie-Punk betitelt, herausstechend ist stets die einprägsame Stimme und die besondere Energie, die transportiert wird. Aufwändig gestaltete Kunstwerke sind auch die Musikvideos der Band.

9. Frank Turner – FTHC

„FTHC“ ist die Abkürzung für „Frank Turner Hardcore“ – der Brite liefert diesmal mit Songs ab, die größtenteils eine Gangart härter ausfallen. Er transportiert sehr persönliche Geschichten voller Ehrlichkeit und Verletzlichkeit mit großem lyrischen Talent und hoher Songwriting-Raffinesse. Live ist er mit seiner Band „The Sleeping Souls“ ohnehin fantastisch.

8. Tocotronic – Nie wieder Krieg

Die Kritikerlieblinge von Tocotronic haben mit ihrem nunmehr 13. Studioalbum bereits ganz am Anfang des Jahres ein weiteres, komplexes, oft verschlüsseltes Gesamtwerk erschaffen. Der sloganhafte Titel bekam in den folgenden Monaten mehrere tragische Wendungen, im Song jedoch geht es nicht um den weltlichen Krieg, sondern um den, den man gegen sich selbst führt. Mit großer Kraft der Worte versammeln Tocotronic eindringliche und bewegende Songs, die unter die Haut gehen.

7. Die Nerven – Die Nerven

In ihrem selbstbetitelten Album thematisieren die Stuttgarter vor allem soziale Kälte, Neoliberalismus und Egoismus. Brachial und mitreißend, pochend und drückend bewegen sich Die Nerven zwischen großen politischen und gesellschaftlichen Themen, rahmen aber auch Überforderung und Ängste ein. Eine erschütternde, soziale Momentaufnahme, die die Hörer*innen durchgerüttelt, mit offenen Mündern und wenig Hoffnung zurücklässt.

6. OG Keemo – Mann beisst Hund

Mit „Mann beisst Hund“ hat OG Keemo ein hochklassiges, dichtes Konzeptalbum erschaffen, das unbedingt am Stück und mit voller Aufmerksamkeit gehört werden sollte. Zwischen grauem Beton und trostlosem Plattenbau wird mit dunkler, mystischer Grundstimmung eine in großen Teilen autobiographische, beklemmende Geschichte erzählt. Voller Symbolik wird ein kleinkriminelles Leben am Rande der Gesellschaft beschrieben, ohne es zu glorifizieren oder zu verurteilen. Ein fesselnder und dramatischer Deutschrap-Blockbuster.

5. Intergalactic Lovers – Liquid Love

Die belgische Band um Sängerin Lara Chedraoui hat Anfang des Jahres ihr viertes Album über das Grand Hotel van Cleef veröffentlicht – allein das wäre schon ein Qualitätsmerkmal. Musikalisch ist die Gruppe nach dem Indie-Rock der Vorgängerwerke nun verträumter und synthlastiger unterwegs, liefert zuckersüße Melodien und unwiderstehliche Refrains. Ob treibend oder schwelgend, in der Musik des Quartetts kann man sich zurecht verlieren.

4. Muff Potter – Bei aller Liebe

Das erste Album nach 13 Jahren und einer fast neunjährigen Pause. Muff Potter sind ohne Zweifel in der Gegenwart angekommen und spiegeln intelligent die Themen unserer Zeit. Kritisch, hinterfragend, gegen Neoliberalismus austeilend und musikalisch dabei durchaus abwechslungsreich und vielschichtig. Schonungslos, bewegend und verstörend ist das siebenminütige Manifest „Nottbeck City Limits“, der stärkste deutschsprachige Song des letzten Jahres.

3. Schmyt – Universum regelt

Schmyt ist eines der großen Phänomene des zurückliegenden Musikjahres. Nach über zehn Jahren mit seiner Band Rakede startet Julian Schmit solo durch und berührt dabei ganz Musikdeutschland mit seiner markanten Stimme und dem ganz besonderen Sprachgefühl in seinen Texten. Er vereint Elemente aus Pop, Hip-Hop und R’n’B und seine samtige Stimme paart sich mit harten oder eben zerbrechlichen Beats. Vor allem thematisch ist er ganz nah an der Lebensrealität seines jungen Publikums.

2. Casper – Alles war schön und nichts tat weh

Satte fünf Jahre nach seiner letzten Soloplatte macht sich Casper vom Erwartungsdruck vollends frei und liefert eine Weiterentwicklung in einer Liga für sich. In für Deutschrap-Verhältnisse enormer musikalischer Vielfalt wirkt er gelassen und feiert das Leben, schreckt aber auch nicht vor schweren und bedrückenden Themen zurück. In seiner Reise der Selbstreflexion gibt es Anti-Kriegs-Hymnen, persönliche Geschichten von Freundschaft und Krankheit, Tracks zum Ausrasten und echte Rap-Glanzlichter. Ein hervorragend produziertes Alben mit unzähligen Referenzen, ein Kunstwerk aus Sprache und Melodien.

1. Betterov – Olympia

Der 28-jährige Manuel Bittorf landet mit seinem Debütalbum „Olympia“ in diesem Jahr an der Spitze der persönlichen Jahrescharts. Der gebürtige Thüringer gießt Weltschmerz in leidenschaftlich-melancholische Musik, in der Post-Punk Atmosphäre schafft und popaffiner Indie-Rock in die Beine geht. Seine feinfühligen Beobachtungen und sein bemerkenswertes Talent für Harmonien münden in Themen, die typisch sind für eine Generation inmitten von existenziellen Krisen und gesellschaftlicher Unruhe. Für ebendiese Hörerschaft macht er Gitarrenmusik wieder spannend, mit seiner markanten, rauen und gelegentlich angenehm brüchigen Stimme transportiert er große emotionale Intensität. Großen Respekt und noch größeren Dank für dieses Werk!

In der Vorschau auf die bisher bekannten Veröffentlichungen des Jahres 2023 gibt es insgesamt nicht ganz so viele Alben wie vor zwölf Monaten, auf die man wirklich hinfiebert. Bereits im Januar erscheint jedoch neue Musik von Pascow und Måneskin, später im Jahr folgt unter anderem das mit Spannung erwartete Debütalbum von Nina Chuba.

 


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