Hochproblematische Vagheit

Musikalisch stark, inhaltlich erschütternd: Daniel Wirtz ist Donnerstagabend im Bremer Modernes aufgetreten.

Daniel Wirtz

Bremen. Anfang Februar hat Daniel Wirtz mit „DNA“ nach über sechs Jahren sein neues Studioalbum veröffentlicht. Darauf präsentiert der 48-jährige kraftvolle Rockmusik mit harten Riffs und treibenden Drums und legt ein aus instrumentaler Sicht durchaus spannendes Werk vor. In der Woche nach Veröffentlichung ist er auf Tour im Bremer Modernes aufgetreten.

Seine Band präsentiert sich in komplett neubesetzter und hochkarätiger Formation. Am Bass und Piano ist der angesehene Studio- und Live-Musiker Pascal Kravetz dabei, an der Gitarre steht mit dem Niederländer JB Meijers ein erstklassiger Gitarrist, der sonst viel mit Peter Maffay kollaboriert und auch mit The Prodigy und den Beastie Boys bereits zusammengearbeitet hat. Als Drummer konnte Joost Kroon gewonnen werden, der das neue Wirtz-Quartett komplettiert. Die intensiven Tourproben sind ihnen anzumerken, sie sind perfekt eingespielt, bestens aufeinander abgestimmt, spielen astreine Rockmusik, die soundlich ohnehin großartig ist. Also alles bestens, oder nicht? Leider weit gefehlt!

Zeit, sich mit den vorgetragenen Texten und den Ansagen auseinanderzusetzen. Vor dem ersten Song tritt Daniel Wirtz ans Mikrofon und beklagt sich, wir würden in Zeiten leben, „in denen man nicht mehr alles sagen darf, ohne abgestempelt zu werden“. Deshalb hätte er Songs geschrieben, die eine klare Sprache sprechen. In „Schweigen mit dir“ singt er von „Meinungsmacherei“, im Album-Titeltrack „DNA“ gibt es die Zeile „Hier wird es einfach so gesagt und nicht aus blanker Angst zensiert.“ Um das kurz einzuordnen: In einem der freiesten Länder der Welt beklagt sich ein Sänger, der auf seinem Album alles, wirklich ALLES unterbringen kann, der auf einer Bühne frei und ohne jegliche Zensur sprechen kann, über Cancel Culture und damit indirekt über eingeschränkte Meinungsfreiheit. Bei allem Respekt: Das ist wirklich lächerlich und völlig unverständlich.

Jede*r kann sich in Deutschland in vielfältigen Formen frei äußern, ein glückliches Privileg. Man sollte aber in der Lage sein, die Konsequenzen der eigenen Aussagen zu tragen, anstatt erst auszuteilen und dann in die Opferrolle zu verfallen. Wer unreflektierten Unsinn von sich gibt, muss mit Gegenwind rechnen – gerade, wenn man als Person der Öffentlichkeit eine gewisse Reichweite und Verantwortung hat.

Der Song „Dünnes Eis“ fasst das Dilemma auf „DNA“ zusammen. Völlig ohne Zweifel sind die Texte politischer Natur, wenn von „zerfallenden Empires“ oder dem „Werk von Pionieren“ fabuliert wird. Ausgedrückt ist das Ganze aber so unglaublich vage und unkonkret, dass sich erstmal viele angesprochen fühlen können. Wasser auf die Mühlen der „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“-Fraktion, ohne es sich mit denjenigen zu verscherzen, die nur mit einem Ohr hinhören und eher auf die Musik achten. Bloß niemanden verschrecken, gleichzeitig aber die Narrative der Rechtspopulisten bedienen. Gesellschaftliches Gift in politisch aufgeladenen Zeiten.

Apropos Gesellschaft: „Wenn die Mehrheit dagegen ist, wird es nicht gemacht“, sei sein Verständnis von Demokratie, so Daniel Wirtz in einer seiner Bühnenansagen. Direkte Demokratie wünscht er sich also – in einer solchen bleibt Gemeinwohlorientierung bekanntlich auf der Strecke, Egoismus steht im Vordergrund und Populisten können gezielt Stimmung machen. Alles klar. Worauf er konkret anspielt bleibt – einmal mehr – unklar.

Es wird noch schlimmer, denn mit „Willkommen im Krieg“ wird ausgerechnet mit einem vermeintlichen Anti-Kriegs-Song der absolute Tiefpunkt des Abends erreicht. Erneut nur in Andeutungen passiert in Ansage und Song eine unwidersprochene Täter-Opfer-Umkehr mit sarkastischem Unterton. Frei nach dem Motto: Wer die eigene territoriale Integrität verteidigt, wer seine Bevölkerung vor den Verbrechen von Aggressoren schützt und dafür Waffen verwendet, macht sich mitschuldig. Er fordert dazu auf, Konflikte diplomatisch zu lösen – im Klartext: Mit mörderischen, expansionswütigen, vernichtenden Aggressoren über Grenzen und Freiheitsrechte verhandeln, statt sich selbst zu verteidigen. Das ist so schlimm, dass es kaum in Worte zu fassen ist.

Was ist passiert mit Daniel Wirtz in der Zeit nach der letzten Tour im Jahr 2018? Woher kommt der Frust? Die Zugabe gibt Aufschluss darüber, denn wie im Bullshit-Bingo kommt er nun auf Corona zu sprechen. Er wollte „niemanden wegen des Impfstatus ausschließen“ und hat seine verschobene Unplugged-Tour während der Pandemie deshalb abgesagt. Diese war ausverkauft und sollte wenige Tage nach Ausbruch im März 2020 starten. Während der Konzertbetrieb seit gut zwei Jahren wieder regulär läuft, kehrt Daniel Wirtz erst jetzt zurück auf die Bühne. Sein Konzert in Bremen wurde aus der Aladin Music Hall aufgrund mangelnder Vorverkäufe ins Modernes runterverlegt und auch dort sind die Reihen nur luftig gefüllt.

Es liegt aber eben garantiert nicht an der Pandemie, wenn jemand in dieser Zeit den Anschluss verloren hat, sondern an der eigenen Reaktion und am eigenen Umgang damit. Dafür gibt es mehr als genug Beispiele in der deutschen Popkultur, auch in der deutschsprachigen Rockmusik. Anspruch, Inhalt, Qualität und Haltung sind nach wie vor maßgebende Indikatoren. Etliche langjährig tourende Acts haben ihre Reichweite in den letzten Jahren sogar vergrößert. Corona ist nicht Schuld am Karriere-Knick. Garantiert nicht.

Es ist wohl eher die völlig aus der Zeit gefallene Art und Weise von Wirtz, die Entsetzen und Fremdscham auslöst. Weiteres Beispiel gefällig? Die Vorband Ambo, eine junge Rockgruppe mit frischem Sound, die einen gelungenen Support-Auftritt hinlegt, hat er mit seinen Bandkollegen in einer Kneipe in den Niederlanden gesehen. Eigentlich eine schöne Gelegenheit, neue Musik kennenzulernen und sich inspirieren zu lassen. Wie kann man diese Ansage also bitteschön auch noch versauen? Naja, aufgefallen seien dem 48-jährigen nicht nur die Songs von Ambo, sondern auch die „geilen Titten“ der Sängerin. Genauso formuliert er es auf der Bühne. Bis der Gitarrist JB Meijers gesagt hätte, „Finger weg von meiner Tochter“. Während vieles an diesem Abend so schwammig und vage formuliert ist, dass es ein paar Tage Arbeit für eine Einordnung bedarf, ist diese Beschreibung so explizit abstoßend, dass sie wohl nicht weiter kommentiert werden muss.

„Platz Eins ist reserviert“ ließ Daniel Wirtz im Titeltrack wissen. Dass dies etwas zu hochgegriffen war wird spätestens klar, als er seine Fans im Modernes fast schon anfleht, am Merch neben der neuen Platte auch ein Shirt zu kaufen, da der Umsatz so als Bundle in die Albumcharts fließen kann, die am Folgetag erscheinen. Beachtlich und verzweifelt für jemanden, der mal gegen Kommerzialisierung im Musikbusiness angetreten ist. „DNA“ steigt einen Tag später auf Platz vier in die Albumcharts ein. Wer solche Aussagen tätigt wie Daniel Wirtz am Donnerstag auf seiner ersten Tour nach Corona, der braucht sich überhaupt nicht zu wundern oder zu beschweren, wenn er ab jetzt völlig zurecht aufs Abstellgleis geschoben wird.

Seht euch hier unsere Konzertfotos an:


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