Ruhestörung! Heute: Kettcar – ICH vs WIR

Eine Art Review oder wie ich das Album beeinflusste

Kettcar Foto: Andreas Hornoff

Prolog: Nach einem Interview zu seiner Soloplatte Konfetti  vor fast genau drei Jahren, saßen Marcus Wiebusch und ich noch ein paar Minuten im Backstage des Schlachthofes zusammen. Er fragte mich, ob ich alle Kettcar-Alben besäße, was ich entrüstet bejahte. Doch damit nicht genug. Wiebusch bohrte weiter, ob mir alle Alben gleich gut gefielen. Ich saß in der Falle. Mit „Sylt“ konnte ich mich nie richtig anfreunden. Und auch wenn ich „Rettung“ und „Im Club“ als die beiden besten Kettcar Songs bezeichnen würde, konnte mit „Zwischen den Runden“ ebenfalls nie vollständig überzeugen. (Obwohl ich mit der Platte in der Zwischenzeit zu schätzen gelernt habe)

Was also in so einer Situation erwidern? Beschwichtigen – „aber natürlich sind alle Platten toll!“ – oder doch die Wahrheit? Doch die Wahrheit! „Die Ersten beiden finde ich schon stärker.“ Oh mein Gott – habe ich das wirklich gesagt? Ja habe ich. „Ich meine, nicht das die anderen beiden schlecht wären“, stotterte ich weiter, „aber die Erste haben eben einen ganz besonderen Platz und so.“ Der Satz endete im Nichts. Marcus nickte, erwiderte noch ein paar freundliche Worte und wir gingen unsere Wege, er auf die Bühne, ich an die Bar.

So sehr ich mich hinterher fragte, ob das wirklich nötig war, habe ich im Nachhinein vielleicht einen winzigen Teil zum neuen Kettcar Album beigetragen. Oder auch nicht, denn: „Die Lüge des einen, kann die Wahrheit des anderen sein“, wie es im neuen Stück „Trostbrücke Süd“, einer kleinen Alltagsbeobachtung über die kleinen Leute, während einer Busfahrt, heißt.

Zufall oder nicht, jedenfalls kracht das Eröffnungsstück „Ankunftshalle“ auf ICH vs WIR spätestens beim Refrain los wie einst „Deiche“. Politisch haben Kettcar immer wieder Stellung bezogen. Genanntes „Deiche“ oder auch „Schrilles, buntes Hamburg“ seien exemplarisch genannt. Aber fast durchweg, das gab es noch nicht. „Wagenburg“, musikalisch ebenso forsch, wie die Nummer davor, bezieht sich auf den Albumtitel und beschreibt ein ICH, das für ein WIR spricht (oder sprechen möchte oder denkt zu sprechen). Ein DU fehlt in dieser Betrachtung, vermutlich absichtlich, gänzlich. Dabei wäre ein DU die Lösung des Problems, denn wer auf jemand anderen eingeht, sich sorgt, Empathie, Mitgefühl und Interesse zeigt, ein Gegenüber oder Nachbarn kennenlernen will, der hat weniger Angst vor Veränderung, wenn er feststellt, dass Menschen sich sehr ähnlich sind. Egal welcher Kultur oder Religion sie entspringen, Menschen haben die dieselben Bedürfnisse nach Frieden, Ruhe, Freiheit, Liebe, Zuneigung und das Bayern Zuhause verliert.

Ich weiß nicht, ob der Begriff Konzeptalbum im Zusammenhang mit ICH vs WIR passt, aber die beiden erwähnten Stücke geben die übergeordnete Thematik des Albums wider, welches ohne die politischen Entwicklungen und menschlichen Katastrophen der Letzten zwei bis drei Jahren wohl anderes ausgefallen wäre.

Die Vorabsingle „Sommer 89“ thematisiert Flucht und baut geschickt Parallelen zwischen 1989 und 2015 auf. Und arbeitet sich gleichzeitig an inter-linken Diskussionen und Meinungsströmungen ab. Sowieso erinnert das Album in gewisser Weise  an „Nicht zynisch werden“ von …But Alive (Wiebusch Vorgängerband) erinnert. Zumindest gibt es nun auf ICH vs WIR nach „Nie mehr zurück“ von eben jenen Album, einen weiteren Song übers Aufbrechen Richtung Norden. Selbst wenn es in diesem Fall nur für eine Nacht sein könnte.

Alle Schlagwörter der Letzten zwei Jahren tauchen im Laufe des Albums auf: Pegida, Populisten, Gutmenschen. Genau diese Gutmenschen, gegen die Wiebusch einst selber wetterte. Nun folgt die bittere Erkenntnis, es gibt (und gab stets) ein viel größeres Übel. Vielleicht waren die Reaktionen in der Vergangenheit überzogen. Der Abschluss „Revolver“ kommt jedenfalls einer Entschuldigung gleich. Hieß es einst in dem …But Alive Song  „Betroffen aufessen“ (ebenfalls vom Album „Nicht zynisch werden“: …  und ihre humanistischen Werte lernen. Ich frag‘ mich, wo sie heut‘ wohl ist, was sie heut‘ wohl macht, ob sie immer noch ihren Pulli hat Ich meine, das wäre gar nicht mal unwahrscheinlich Und wenn die Bilder der Tagesschau auf sie einkrachen, wird sie weinen und sagen: „Dagegen muss man doch was machen““. Folgt nun die Einsicht: Keine einfache Lösung haben, ist keine Schwäche Die komplexe Welt anerkennen, keine Schwäche Und einfach mal die Fresse halten, ist keine Schwäche Nicht zu allem eine Meinung haben, keine Schwäche“.

Wie die unterschiedlichen politischen Flügel bei den Grünen standen …But Alive  vielleicht für die Fundies und Kettcar nun für Realos. Ist es das Älterwerden? Wenn es so sein sollte, beweisen Kettcar, auch in der zweiten Lebenshälfte kann man wütend sein und gleichzeitig eine gewisse Altersmilde an den Tag legen. Die letzten Zeilen des Albums sind dann die persönlichsten, die Wiebusch je verfasste. In der Vergangenheit schrieb Wiebusch stets von denen und jenen, in der dritten Person, nannte keinen Namen und beschrieb Personen nicht oder nur undeutlich. Das war sein Weg sich und die Seinen zu schützen. Selbst in Lovesongs wie „Balu“, der in der ersten Person Singular geschrieben ist, wird der Sänger nicht konkret, um wen es sich wirklich handelt, außer eben um einen Mann und einer Frau. Auch „48 Stunden“ lässt beispielsweise Raum zur Interpretation.

Zum ersten Mal bricht Wiebusch mit dieser Tradition, indem er ganz eindeutig von seinem Kind und seinem Vater singt. „Ich erklär‘ meinen Kindern, was ein guter Mensch ist. Mit Sätzen, die heutzutage sonderbar klingen. Denk‘ an meinen Vater, hoff‘ dass ich besser bin. Erhäufe mein Herz im täglichen Ringen.“

Epilog: Mit ICH vs WIR öffnen sich Kettcar. Quasi das Gegenstück zu Tocotronic’s „Eins zu Eins ist jetzt vorbei“, mit dem die Hamburger ankündigten nicht mehr direkt sein zu wollen, haben Kettcar für ihr neues Album genau diesen Weg gewählt und sind direkt wie selten zuvor. Einen Umstand, der böswillig gegen die Band verwendet werden kann, weil Kettcar sich angreifbar machen. Es hat, gerade in der linken Szene, Tradition, nach direkten und verständlichen Texten zu schreien, statt immer nur zu versuchen verkopfte und verschachtelte Lyrics zu verstehen. Sobald eine Band aber ernsthaft direkt wird, ist es auch nicht gut, vor allem, wenn kommerzieller Erfolg einhergeht. Die Haltung ist dann zu humanistisch, nicht revolutionär genug, zeigt zu viel Verständnis, wählt die falschen Wörter etc. pp. . Ähnliches war bereits bei dem Debüt von Adam Angst zu erleben. Dabei war es bis weit in die 90er hinein üblich, dass Rockbands die ursprünglich aus dem Punkrock entsprangen, weiterhin eine Meinung und eine Haltung transportierten. Das wurde dann nicht diskutiert, so wie die Protagonisten die Hilfsaktion in „Er schnitt Löcher in den Zaun“ am WG Tisch diskutierte. Einfach ab und zu mal die Fresse halten. Und gute Musik hören. Diese hier zum Beispiel.

 


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