Jay Pop – Italien, Golden Press / Erotik Toy Rec

Der Chefmelancholiker der Erotik Toy Records Crew JAY POP legt nach dem Tape „Oceanspray“ sein Langspieldebüt mit dem Titel „Italien“ vor.

Jay Pop "Italien"

Italien – das Sehnsuchtsland der Deutschen in den 1980er Jahren. Das Jahrzehnt, in dem Fliegen nicht selbstverständlich war. Wer in den Urlaub wollte, wählte in der Regel das Auto als Fortbewegungsmittel. Vorne die Eltern, hinten die Kinder. Statt der Playlist eines Streamingdienstes gab es lediglich Kassetten zur Unterhaltung. Hörspiele für die Kinder und Deutschsprachiges für die Eltern. Zum Teil ist JAY POP musikalisch in diesem Jahrzehnt sozialisiert. Im weitesten Sinn lässt sich „Italien“ zwar dem Genre Hip-Hop zuordnen, die Keyboardtöne, welche den Songs Struktur und Soundästhetik verleihen, haben ihre Vorbilder allerdings in dem Jahrzehnt von Wrigley Spearmint und „like ice in the sunshine“. Womit wir schon beim entspannten Urlaubsfeeling sind, welches „Italien“ trotz vieler nachdenklicher und introvertierten Texten durchzieht. „Es tut noch weh, aber es ist okay, wenigstens bleibt uns, was noch zählt“ („Es kann nicht weiter mit uns gehen“). Ein Titel mit Doppeldeutigkeit, wie sie häufiger auf „Italien“ vorkommt. Bedeutet das „weiter“ im Titel nun, wir haben alles geschafft und darum geht es von hier nicht mehr weiter oder wird das Scheitern thematisiert? Beides wäre auf seine Weise traurig, wäre da nicht die Hoffnung. Aber davon gleich mehr.

„Italien“ beginnt mit dem Ratschen eines Feuerzeuges, mit dem sich einer der „100.000 Marlboros“ – so der Titel des ersten Stückes – angezündet wird. Rauchen war in den 80er ja ebenfalls en vogue. Genau wie die Pastellfarben, die das Albumcover bestimmen. Und es beginnt eine Reise, die schließlich mit dem titelgebenden Lied endet. Dazwischen stehen die Erfahrungen eines Lebens: „Scheiden tut weh“, „Wünsche“ und „Kids“ – das hat alles einen melancholischen Touch, kommt aber nie selbstmitleidig daher. Viel eher wird die Situation angenommen, z.B. handelt „Kids“ nicht unbedingt von den eigenen Kindern, sondern von dem Wunsch sich etwas Kindliches zu bewahren. In der letzten Konsequenz eben auch, um die eigenen Kinder besser zu verstehen und ihnen einen anderen Weg aufzuzeigen, als die eigenen Eltern es getan haben. Es reicht vielleicht manchmal auch als Erwachsener noch kurz entschlossen auf ein Konzert zu gehen, („Scheiden tut weh“) statt es sein zu lassen, um anschließend mit dem Mädchen seiner Träume auf dem „Gepäckträger“ (=HIT!), „dem Klappergestell“ nach Hause zu fahren, weil die Straßenbahn nicht mehr fährt. Und schließlich kommt es, wie es immer kommen muss: Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, ist es ja bekanntlich auch nicht das Ende. Deswegen geht es nach Italien, denn dort ist „alles schön.“ Dort kann dann der ganze Quatsch, mit dem sich „von morgens um sieben bis zur Tagesschau um acht“ („Nur an dich gedacht“) rumgeschlagen werden muss, vergessen werden, statt „an sich selbst zu scheitern“ (iPhone).

All diese Grauschleierthemen lasten schwer auf der Seele, ziehen aber nicht runter, weil die Hoffnung in jedem Stück die Oberhand gewinnt. JAY POP scheint sagen zu wollen: Hey, wir reißen uns jetzt zusammen und machen das Beste aus unseren Möglichkeiten. Wir stellen etwas auf die Beine. Und wenn es noch so klein und unbedeutend sein mag, so hat es in diesem Moment eine unvorstellbare Größe und bedeutet alles auf der Welt. Und wenn es nur eine Reise nach Italien ist, die nächste Zigarette, das Bier mit den Freunden oder eine neue/alte „(meine) blaue Jeans“.

In einer Plastikwelt aus Instagram-Filter und Tik-Tok-Videos mit der Aufnahmefähigkeitsspanne eines Goldfisches, die vorgaukeln, das wahre Leben widerzuspiegeln, tut eine (echte und wahrhafte) Platte wie „Italien“ von JAY POP gut. Manchmal kann Melancholie als Protest begriffen werden, weil das Leben einfach so ist, oft anstrengend und nervig, manchmal traurig, aber doch wunderschön. Solange es nicht verstellt oder verklärt wird. „Baby fahr mit mir nach Italien / dort ist alles schön“ – wie diese Platte.


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