Vier Tage Staub, Schnaps, Spaß – und ganz viel Musik

Bestes Sommerwetter mit ganz viel Sonne, ausgelassene Stimmung und viele besondere Momente haben bis zu 60.000 Besucher*innen beim diesjährigen Deichbrand Festival erlebt.

Madsen (Foto: jk)

Cuxhaven/Nordholz. Viel gefeiert, wenig geschlafen und schon sind vier Tage Staub, Schnaps und Spaß schon wieder vorbei. Eine Wochenenddosis Festivalwahnsinn haben 60.000 Besucher*innen des Deichbrand Festivals bei Cuxhaven hinter sich. Bei strahlendem Sonnenschein feierten sie vier lange Tage und Nächte vor den sechs Bühnen oder auf dem Campingplatz. Im Line-Up fielen neben Rockmusik und elektronischen Acts in diesem Jahr viele Künstler*innen aus dem Hip-Hop-Bereich auf. Durch diese breite Auswahl werden viele Geschmäcker getroffen, die Nahe der Nordsee ein Wochenende gemeinsam verbringen.

Donnerstag: Heimspiele, Einlassstopps und schon heute vier Bühnen

Nach überstandener Anreisewelle und Zeltaufbau startet pünktlich um 18:00 Uhr das Programm auf der Jever Hafenbar, im Palastzelt und auf Electric Island. Später gibt es erstmals auch schon am Donnerstag zwei Acts auf der großen Fire Stage. Im Vergleich zur letzten Festivalausgabe im Sommer 2019, ist die Elektrobühne auf das Infield gerückt. Auf der geschlossenen Jever Hafenbar findet auf Sand ein Großteil des heutigen Programms statt, Freitag und Samstag ist die Bühne jeweils für einen Late-Night-Act im Einsatz. In dem eigens eingezäunten Bereich mitten im Infield sind gerade Newcomer-Auftritte viel persönlicher und intensiver, als z.B. mittags auf den Hauptbühnen. Hier eröffnen heute Loose Lips aus Oldenburg das Festival, die direkt Sprechchöre von Fans aus ihrer Heimatstadt bekommen.

Ein noch größeres Heimspiel ist es anschließend für Raum27, die ganz in der Nähe des Festivals aufgewachsen sind. Noch lange vor dem Beginn gibt es schon einen Einlassstopp, selbst die kleine Aussichtsplattform hinten ist brechend voll, der Bereich unten erst recht. Im Laufe der Minuten stehen rund um die Zäune noch viel mehr Leute als im Inneren, es dürften mehrere Tausend Personen sein. Raum27 starten mit dem noch unveröffentlichten Song „Ein bisschen mehr Liebe“, spielen neuere Nummern wie „Frida“ und „Das Klima wieder hin“ sowie das frisch veröffentlichte „Sommerregen“. Den bekanntesten und beliebtesten Song „Oft gesagt“ sparen sie sich für das Ende auf und große Moshpits entstehen, sogar außerhalb des eingezäunten Bühnenbereichs. Sänger Tristan geht mit einem beherzten Sprung auf den Armen der Fans crowdsurfen. Wirklich krass, was bei dieser Bremer Band hier abgeht und spannend, wohin diese Entwicklungen in nächster Zeit noch führen werden.

Negativ fällt unterdessen die Security auf. Unabhängig von der Frage, ob die Hafenbar unbedingt eingezäunt sein muss – warum nimmt die Security am Eingang der vollen Bar erst in Kauf, dass die Leute trotzdem weiter vorrücken, um sie anschließend von vorne, also mit hunderten nach vorne blickenden Leuten im Rücken, zurückzudrängen? Wenn gegensätzliche Ströme bewusst aufeinander gesteuert werden, kann leicht Panik entstehen, das ist gefährlich!

Beim einstündigen Auftritt von Deine Cousine im viermastigen Palastzelt ist es ebenfalls sehr voll, aber alle Leute, die den rockigen Auftritt von Sängerin Ina Bredehorn und ihrer Band sehen wollen, kommen auch ins Zelt. In ihrem Set bringt sie viele unveröffentlichte Songs unter, auch für sie ist es fast ein Heimspiel, da sie gebürtig aus der Nähe von Wilhelmshaven kommt. Jeden Tag gibt es 2-3 Autogrammstunden oder 20-minütige Sessions am Merchandise-Stand auf dem Gelände, auch dort bringt die Sängerin die Leute später am Abend nochmals zum Feiern und klettert sogar auf die Stahlaufbauten. Die kleinen, persönlichen Auftritte von Bands, die vorher auf den großen Bühnen gespielt haben, können eben auch echte Highlights sein.

Vor Electric Island ballert der Bass und auf der großen Fire Stage legen um 21 Uhr Beauty & The Beats los, später folgen Drunken Masters – volle DJ-Action für die Massen! In der Hafenbar ist unterdessen Bobby Lies spontan für The Screenshots eingesprungen. Der markant tätowierte Sänger mit Punk- und Hardcore-Vergangenheit spielt Musik zwischen melancholischem Pop und härteren Rock-Klängen. Im Anschluss füllen H-Blockx das Palastzelt problemlos, die Crossover-Vorreiter spielen Songs aus über 30 Jahren Bandgeschichte. Später wird es noch laut und punkrocklastig in der Hafenbar, auf dem weitläufigen Festivalgelände gibt es gleich mehrere Möglichkeiten, bis tief in die Nacht zu feiern.

Freitag: Kraftklub morgens auf dem Campingplatz und abends gefeierter Headliner

Den ersten langen Festivaltag eröffnen Bilbao, die erst im Anschluss spielen sollten, um 14:00 Uhr und nicht wie zuerst angekündigt Le Fly. Schade für die Leute, die um 15:00 Uhr die Indie-Newcomer sehen wollten. Le Fly aus St. Pauli sind so etwas wie die Hausband des Deichbrands und entsprechend beliebt bei den Gästen, die früh zur Ska-Punk- und Tanzmusik feiern. Mit Moshpits, Kniebeugen und rudern gegen den Kater steht sogar noch interaktives Programm auf der Tagesordnung. Mit den Rogers spielt direkt danach bereits die nächste „Stammband“ des Festivals und bietet Punkrock zum Tanzen. Tristan von Raum27 singt bei „Zu spät“ den Feature-Part mit und das Publikum stimmt „Happy Birthday“ angesichts des zehnjährigen Bandjubiläums an. Sechs Sommer davon haben die Rogers auf dem Deichbrand verbracht und deshalb – wie sollte es anders sein? – laden sie sich standesgemäß wieder selbst für das nächste Deichbrand ein, dann sogar mit neuem Studioalbum.

Die Orsons sind aus Stuttgart mit Schlagzeug und basslastiger Hip-Hop-Show angereist. Der Auftritt ist durchaus vielseitig, wobei die Soloplatten von z.B. Tua und Maeckes qualitativ viel hochwertiger sind. Musikalisch passend kommt zu Passenger um 18:00 Uhr die Sonne raus. Der britische Singer-Songwriter mit dem Hit „Let Her Go“ aus dem Jahr 2012 steht ganz alleine mit Akustik-Gitarre auf der Bühne und nimmt seinen One-Hit-Wonder-Status mit Humor, ist aber viel mehr als ein einziger Hit! Dennoch brechen natürlich Jubelstürme los, als die ersten Töne des Folk-Pop-Songs erklingen. Bei den Guano Apes ist das Publikum im Schnitt ein paar Jahre älter als auf dem Gesamtbild des Festivals, die großen Erfolge der Band liegen schließlich schon 10-20 Jahre zurück.

Clueso spielt in der Abendsonne den ersten Auftritt, bei dem es so richtig voll ist. Viele kennen die Texte des sympathischen Songwriters, seine Gute-Laune-Musik ist am frühen Abend ideal untergebracht. Er wird neben seiner Band unterstützt von einer Bläser-Fraktion, z.B. bei der Single „37 Grad im Paradies“ oder einem langen Saxophon-Solo bei „Cello“. Wie schon erwähnt, haben in diesem Jahr besonders viele Hip-Hop-Acts den Weg ins Line-Up gefunden. So kann es passieren, dass sich die Shows von Bausa und Haiyti vollständig überschneiden und beide viele Fans zu ihren Spielstätten ziehen.

Spontan haben Kraftklub vormittags auf dem Campingplatz gespielt und für eine dicke Überraschung zwischen den Zelten gesorgt. Abends ist es eines Headliners würdig wahnsinnig eng und voll vor der Hauptbühne, als die Band mit der neuen Single „Fahr mit mir (4×4)“ eröffnet und natürlich auch die anderen beiden Singles des kommenden Albums spielt. Es ist ein buntes Potpourri durch die bisherige Diskographie vor einem springenden Festival bei bester Stimmung und das erste, große Highlight des Wochenendes. Apache 207 feiert mit dem Publikum nach Mitternacht mit Pyro- und Knalleffekten in die Nacht, kann das Level von Kraftklub aber nicht halten. Störend sind die langen Pausen zwischen den kurzen Songs, die die Energie in die Dunkelheit verpuffen lassen. Atmosphärisch wird’s dafür, als er mit einem Boot, passend zum gleichnamigen Song, durch das Publikum schippert. Einen Abriss für die Hartgesottenen und nicht müde zu kriegenden Besucher*innen gibt es nachts ab 1:30 Uhr mit Milliarden in der Hafenbar.

Samstag: Pyro-Effekte, Nebenmaschinen und Tortenwürfe

Die anschließende Nacht ist recht kurz, da der Tag bereits um 12:00 Uhr mittags mit einem Opening Special von Finch startet. Beim diesjährigen Line-Up und der damit verbundenen Zielgruppe zieht das Frühsport-Animationsprogramm schon um diese Zeit viele Leute auf den Platz. Tanzbar wird’s bei Querbeat und rockig mit Anti-Flag, die US-amerikanische Punk-Band hat auch im 30. Jahr ihres Bestehens nichts von ihrer Energie verloren. OK Kid haben ihr frisch veröffentlichtes Album „Drei“ im Gepäck, spielen aber auch unbekanntere Stücke wie „Epilog“. Im Schlauchboot crowdsurfen sie durch den vorderen Abschnitt und sammeln dabei Pfandbecher für Viva Con Agua ein.

Mighty Oaks erschaffen eine entspannte Festivalatmosphäre und können in jedes noch so müde Gesicht noch ein Lächeln zaubern. Gut gelaunte und gefühlvolle Musik gibt es zeitgleich mit Bosse und Tonbandgerät – „das war was fürs Herz“, fasst es Tonbandgerät-Sänger Ole am Ende seines Auftritts ganz gut zusammen. Flogging Molly bringen das Festival mit Folk-Punk zum Springen und Feiern, gemeinsam haben Band und Fans 80 Minuten Spaß in der Abendsonne.

RIN ist über Genregrenzen hinweg beliebt und entsprechend groß ist der Andrang beim Konzert des 28-jährigen Rappers aus dem baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen, das in den letzten Jahren zur Metropole des deutschsprachigen Hip-Hops geworden ist, auch der gestern aufgetretene Bausa und Shindy kommen daher. Er sticht unter den aktuell beliebten Rappern insofern heraus, dass er vielseitige Texte schreibt und auf Platte spürbare Gitarren-Einflüsse einbaut, die er live aber leider nicht dabei hat. Mit Live-Band wäre der Auftritt soundmäßig wohl noch stärker. Die Stimmung mit DJ, Bass und Nebelmaschinen ist trotzdem hervorragend.

Wenig los ist abends bei Headliner Nightwish, der Andrang ist kein Vergleich zu Kraftklub am Tag zuvor, aber auch nicht zu Acts wie Clueso und Flogging Molly, die beide nicht zur besten Headliner-Zeit aufgetreten sind. Schade, dass so wenig Leute kommen, wenn ein deutsches Festival dieser Größe endlich einen Headliner mit weiblicher Stimme engagiert. Die finnische Hard-Rock-Band setzt großzügig Pyro-Effekte und Nebel ein und liefert eine gute Show ab. Bei Steve Aoki wird gefeiert und traditionell Torten in die Menge geworfen und die 102 Boyz nehmen mitten in der Nacht noch das Palastzelt auseinander. Die Rock-Fans kommen bei We Were Promised Jetpacks auf ihre Kosten und auf dem ganzen Gelände gibt es zahlreiche Gelegenheiten, noch bis zum Morgengrauen weiterzufeiern.

Sonntag: Ein bunter Stilmix zwischen Rock, Hip-Hop, Pop und Elektro

Die kurzen Nächte hängen nicht nur mit langen Abenden zusammen, denn auch am Sonntag gibt es ein Opening Special, diesmal mit 257ers und erneut ist es früh sehr voll auf dem Gelände. Kontrastprogramm mit wunderschöner, bedeutsamer Musik gibt es von den wiedervereinigten Jupiter Jones. Ihr neues, durch Crowdfunding finanziertes Album erscheint am 30. Dezember, einige Songs werden bereits heute in der Mittagshitze präsentiert.

Grossstadtgeflüster bringen die Meute mit einem Keyboard-Solo zum Springen, das hat es auch noch nicht oft gegeben. Lauter und rockiger wird es mit Danko Jones. Heute wechseln sich die Genres auf den Hauptbühnen noch stärker ab. Die kanadische Band um den namensgebenden Sänger spielt eine gute Stunde, während die Sonne extrem knallt und die Leute den Schatten in der Nähe suchen. Komplettes Kontrastprogramm liefert Rapper SSIO – speziell, aber witzig und unterhaltsam. Antje Schomaker dagegen spielt euphorische Pop-Musik, versprüht gute Laune und „einen Funken Euphorie“ und covert den Peter Fox-Song „Alles neu“.

Bilderbuch setzen in ähnlicher Stimmung, aber in der knallenden Abendsonne an, der passende Song „Daydrinking“ sollte zwischendurch auch mal für ein Wasser genutzt werden. Zurück im Zelt sind Maximo Park charismatisch und voll in ihrem Element, wobei die Magie klar von den alten Songs ausgeht und es vor der Bühne voller sein könnte. Einem starken Auftritt tut das aber keinen Abbruch. Madsen sind ganz spontan für die erkrankten Milky Chance eingesprungen und es ist wahnsinnig voll. Zur besten Stagetime liefern sie eine vollkommen energiegeladene Show. Riesige Moshpits und Staubwolken entstehen und Tausende glückliche Besucher*innen erleben eines der besten Konzerte des Festivals.

Muff Potter spielen ihren einzigen Festivalauftritt vor dem Release ihres ersten Albums seit 13 Jahren Ende August auf dem Deichbrand. Die ersten beiden Singles von „Bei aller Liebe“ gibt es gleich zu Beginn, insgesamt vier Live-Premieren hält das einstündige Set bereit. Die Energie auf der Bühne und im Publikum ist unglaublich, sogar das im Festivalkontext völlig aus der Reihe fallende und absolut großartige und wichtige „Nottbeck City Limits“ spielen sie – extra und nur dafür mit zusätzlichem Gitarristen. Muff Potter sind eine der Bands hier, die wirklich noch für ihre Werte einstehen. Ganz stark, großen Respekt dafür!

Alle wollen Sido sehen! Gefühlt alle, die noch da sind, stehen vor der Water Stage. Die Leute klettern sogar auf die Dixis und sehen die Show des Rappers mit vielen bekannten Hits, aus der Ferne sehen auch einige der anwesenden Sanitäter und Polizisten zu. Ruhiger und gefühlvoller wird es bei Enno Bunger, der neben emotionalen Songs auch durch seine grundsympathische Art überzeugt und sich von zwischenzeitlichen technischen Problemen nicht verunsichern lässt.

Den Abschlussakkord auf den Central Stages dürfen Dropkick Murphys spielen, ein letztes Mal unter freiem Himmel rocken. Stilistisch ähnlich zu Flogging Molly auf der gleichen Bühne gestern, präsentieren sie viele neue Songs und einen Gitarren-Abschluss nach einem Wochenende, an dem es auch sehr viel Hip-Hop gab. Provinz haben krankheitsbedingt abgesagt, deshalb spielen Kaffkiez einen Slot eher im vollen Palastzelt und bilden den musikalischen Abschluss des Festivals. Wer noch die Kraft dazu hat, könnte auf Electric Island sogar noch bis 2:00 Uhr weiterfeiern. Somit endet das Deichbrand Festival mit viel Ekstase und traditionell wird gegen Ende das Datum für das Event im folgenden Jahr bekanntgegeben. 2023 findet es vom 20. bis 23. Juli statt. Tickets gibt es bereits im Vorverkauf.

 


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