Stimmungshoch trotz Schlammchaos

Top-Acts der deutschen Musikszene auf einem Gelände, das immer mehr zur Schlammwüste wird: 60.000 Besucher*innen haben ein besonderes Wochenende beim diesjährigen Deichbrand Festival erlebt.

Jan Delay, Foto: Jörg Kröger

Cuxhaven/Nordholz. Das 18. Deichbrand Festival wird wohl keiner der 60.000 Gäste des ausverkauften Events jemals vergessen. Denkwürdige Niederschlagsmengen führten zu besonderen Herausforderungen, die ab Samstag die organisatorischen Abläufe prägten. Gelände und Campingplätze waren kaum wiederzuerkennen, Gummistiefel und Regenjacken plötzlich die wichtigsten Accessoires. Trotz dieser Umstände war die Stimmung unter den 60.000 Festivalbesucher*innen gut, die an vier Tagen vor sechs Bühnen zu einem musikalischen Programmmix aus den Genres Hip-Hop, Electro, Pop, Rock, Alternative, Indie und Metal feierten. Insgesamt waren 128 Acts und damit so viele Künstler*innen wie noch nie auf dem Deichbrand Festival bestätigt.

Das größte Line-Up aller Zeiten verteilt sich auf die abwechselnd bespielten Hauptbühnen Fire Stage und Water Stage, das Palastzelt, Electric Island für die zahlreichen DJ-Acts, die Jever Hafenbar, sowie die nach einigen Jahren reaktivierte New Port-Bühne. Auf dieser eigens für Newcomer*innen errichteten Bühne zwischen Infield und Camp Central spielen an allen vier Tagen je vier junge, hoffnungsvolle Acts der deutschen Musikszene. Wer es hier ins Programm schafft, ist auf einem guten Weg, in einigen Jahren auf den größeren Bühnen der Festivallandschaft aufzutreten.

Neu sind ebenfalls die „Talking Trees“ als Ruheoase des Festivals, die abseits des Konzertgeländes für Entschleunigung sorgen. Der Bereich dient als Rückzugsort für alle, denen der Festival-Trubel, die vielen Menschen oder die Geräuschkulisse kurzzeitig zu viel wird. Sie haben die Möglichkeit in gemütlichen Ecken und Hängematten zu entspannen, um sich im Anschluss wieder der Festivalparty anschließen zu können.

Neben den musikalischen Highlights erfreut sich auch das bunte Rahmenprogramm vor allem an den ersten beiden Tagen großer Beliebtheit. Direkt vor dem Infield-Eingang lädt der XXL-Pool mit Beach-Area ein, daneben können sich Gruppen in der Flunkyball-Arena oder beim Beachvolleyball messen. Der Green Circus hält ein breitgefächertes Workshop-Angebot bereit und bei Helikopter-Rundflügen lässt sich das große Gelände aus der Luft bestaunen. Abgerundet werden die Rahmenbedingungen mit zahlreichen Partnerpräsentationen sowie dem abwechslungsreichen kulinarischen Angebot bestehend aus rund 50 Food-Ständen und Food-Trucks aus aller Welt.

Donnerstag: Großes Programm auf fünf Bühnen nach Anreise-Herausforderungen

Nachdem ein großer Teil der Festivalbesucher*innen die Frühanreise am Mittwoch genutzt und bereits eine Nacht auf den Campingplätzen verbracht hat, wird die Anreise durch einen Unfall mit einem Schwertransport auf der A27 am Donnerstag erschwert. In Richtung Cuxhaven ist die Autobahn voll gesperrt, was zu langen Staus und Wartezeiten führt. Wer dies rechtzeitig mitbekommt hat die Chance, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Nach überstandener Anreise und Zeltaufbau startet am späten Nachmittag das musikalische Programm, am ersten Abend werden bereits fünf der sechs Bühnen bespielt, die Water Stage setzt dann am folgenden Tag ein.

Die meisten Auftritte gibt es am Donnerstag in der Jever Hafenbar mitten im Infield. In dem eigens eingezäunten Bereich sind gerade Newcomer-Auftritte viel persönlicher und intensiver, als z.B. mittags auf den Hauptbühnen. Auf Sand stehend wird zudem eine besondere, sommerliche Clubatmosphäre erzeugt. Hier treten um 18:00 Uhr Sperling auf, die mit härterem Rock mit Rap-Wurzeln und Cello ein variantenreiches und hervorragendes Opening hinlegen. Es ist ein ganz starkes, packendes und facettenreiches Konzert einer spannenden Band.

Während die New Port-Bühne ausschließlich für junge Acts reserviert ist, sind solche natürlich auch verteilt im übrigen Programm zu finden. Ein perfektes Beispiel dafür ist Berq, dessen Songs seit Wochen oben in der beliebten „Wilde Herzen“-Playlist auf Spotify viel Aufmerksamkeit bekommen. Live tritt der junge Newcomer mit seinen emotionalen Songs mit Unterstützung an Gitarre und Bass auf, covert „Ich wünschte, du wärst verloren“ von Schmyt, als dessen Support er vor kurzem spielen durfte, und geht zur Zugabe seines bekanntesten Songs „Rote Flaggen“ zu den Fans in die erste Reihe.

Von Electric Island ballern seit dem späten Nachmittag die Bässe und nach dem geglückten Debüt im letzten Jahr, gibt es auch bei der diesjährigen Ausgabe bereits am Donnerstag Programm auf der Fire Stage – und zwar mit denselben beiden, beliebten Acts. Um 22:00 Uhr legen Beauty & The Beats los, später folgen Drunken Masters – volle DJ-Action für die Massen! Was sich bewährt hat, sorgt auch in diesem Jahr für springende, feiernde und tanzende Fans.

Beim einstündigen Auftritt von Blackout Problems im viermastigen Palastzelt ist es ebenfalls sehr voll, die Alternative-Rock-Band aus München steht für unbändige Energie und eine ereignisreiche Live-Show. Es bilden sich Circle-Pits, sensibel anmoderierte Flinta-Pits und Sänger Mario Radetzky geht mit einer Tonne von Viva con Agua crowdsurfen, um Pfandspenden für die Organisation zu sammeln. Es bleibt anschließend rockig und wird international im Palastzelt, das Konzert der Briten You Me At Six erlebt einen verdienten Ansturm und auch bei Don Broco, ebenfalls von der Insel eingeflogen, ist es gut besucht. Noch eine Spur lauter und wilder wird es spät in der Nacht bei The Hirsch Effekt, deren Stilmix rund um Metal-Klänge einen ereignisreichen Tag abschließt, während es auf dem weitläufigen Festivalgelände noch mehrere Möglichkeiten gibt, bis in die Morgenstunden zu feiern.

Freitag: Doppelter Bremer Einlassstopp im Palastzelt mit Team Scheisse und Raum27

Den ersten langen Festivaltag eröffnet Ski Aggu mit einem Frühsport-Spezial um 13:00 Uhr in der Mittagssonne. Der Rapper erreicht nicht erst seit seinem Nummer-Eins-Hit „Friesenjung“ ein großes, junges Publikum und sorgt für feierwütige Fans mit Sonnen- oder Skibrille, bunten Klamotten und wilden Perücken. Die Leute strömen vor die Bühne und es ist die wohl größte Crowd, vor der der Berliner bisher aufgetreten ist. Eine wilde, lockere Stunde, bei der viel gesprungen und gefeiert wird.

Während anschließend auf einer der Hauptbühnen mit Le Fly aus St. Pauli die bei den Gästen beliebte „Hausband des Festivals“ auftritt, gibt es in der Jever Hafenbar weibliche Power bei der Pop-Punk-Band Still Talk aus Köln. Auf Sand verlassen in sonniger Atmosphäre einige Besucher*innen gewohnte Wege und entdecken neue, spannende Acts. Das lohnt sich und ist für viele ein wichtiger Teil ihres Festivalbesuchs. Gleiches gilt den Auftritt der schottischen Rockband Cold Years, die kraftvollen und dynamischen Alternative-Punk spielen, während nebenan die Deichbrand-Dauerbrenner Rogers randürfen.

Gegen 17:20 Uhr wird es besonders und speziell, denn die Bremer Punk-Sensation Team Scheisse ist angekündigt und macht das Palastzelt mit seiner Kapazität von 7.500 Gästen auf Anhieb voll. Einlassstopp, nichts geht mehr – auf der Bühne und im Publikum dafür umso mehr. Zunächst überrascht jedoch ein ungewohnter Anblick: Sänger Timo hat sich Corona eingefangen und Gitarristin Mello springt am Gesang ein. Die sonst sechsköpfige Gruppe steht heute als Quartett auf der Bühne, das hakt hier und da etwas im Zusammenspiel, aber um filigrane Klänge geht es hier sowieso nicht. Wilde Moshpits bilden sich und als zum traditionellen Blockflötensolo bei „Ich dreh mich nochmal um“ zufällig ein Fan auf die Bühne geholt wird, ist das Jonathan vom Bremer Rock-Duo Below Zero, der sogar das Sample mitsingt, das Publikum animiert und abliefert, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Ein noch größeres Heimspiel ist es für Raum27 aus Bremen, die ursprünglich aus Bremerhaven kommen und schon im letzten Jahr für einen Einlassstopp in der Jever Hafenbar gesorgt haben. Damals standen Tausende Fans um den Zaun herum, in diesem Jahr geht es deshalb ins größere Palastzelt – und auch hier sind die Grenzen schnell erreicht. Die Indie-Pop-Gruppe um Sänger Tristan und Gitarrist Mathis strahlt eine grenzenlos positive Energie aus und hat trotz des Sommers mit fast 50 Festivalshows genug Kraft, um pausenlos über die Bühne zu laufen, das Publikum zu animieren und sich schließlich auf deren Armen tragen zu lassen. Ganz stark, sodass am Ende völlig verdient „Hauptbühne, Hauptbühne“ skandiert wird – das sollte im nächsten Sommer wohl drin sein.

Für viel Aufmerksamkeit sorgte die Bestätigung von Tokio Hotel im Vorfeld, die auf dem Deichbrand ihre erste Festivalshow überhaupt spielen. Der Andrang und das Interesse ist groß, insgesamt ist der Auftritt aber maximal durchschnittlich und unspektakulär – die Band lebt mehr von ihrem großen Namen als von der Qualität ihrer Live-Performance. Technische Probleme führen zudem zu einem Abbruch nach der Hälfte des Sets, gegen Ende kommen die Kaulitz-Brüder immerhin nochmal zu zweit auf die Bühne, um akustisch ihren Hit „Durch den Monsun“ zu singen. Reibungsloser laufen da die unterhaltsamen Headliner-Auftritte von Deichkind und SDP, die jeweils die Massen anziehen und begeistern. Musikalisch hochwertig wird es nach Mitternacht nochmal im Palastzelt mit energetischem und packendem Post-Hardcore von Fjørt – ein Abriss für die nicht müde zu kriegenden Besucher*innen.

Samstag: Highlights der deutschsprachigen Musikszene

Die anschließende Nacht ist recht kurz, da der Tag bereits um 12:00 Uhr mittags mit einem weiteren Opening Special beginnt. Alexander Marcus schafft es mit seinem unterhaltsamen Animationsprogramm und den schlagerähnlichen Texten auf elektronischer Musik schon früh, den Platz vor der Bühne sogar noch etwas mehr zu füllen, als Ski Aggu am Tag zuvor. Fest zum Deichbrand-Inventar gehören Liedfett, erstmals dabei ist dagegen das Garage-Rock-Duo Arxx aus Brighton, die mit doppelter, weiblicher Power einen druckvollen Auftritt in der Jever Hafenbar spielen. 1986zig sieht mit seiner schwarzen Sturmmaske zwar nach härtestem Gangster-Rap aus, überzeugt dann aber mit einer Mischung aus Pop und Urban mit rauchig-kratziger Stimme.

Um die Mittagszeit setzt Regen ein, der für über 24 Stunden nicht mehr aufhören wird. Mal stärker und lange als konstanter Nieselregel, weicht er das Gelände auf, verwandelt Acker in Schlamm und lässt tiefe Pfützen entstehen, ab jetzt sind Gummistiefel und Regenjacken Pflicht. Trotz einer Klamottenschicht mehr, schafft Thees Uhlmann es mit seiner fantastischen Liveband, bis in die Herzen der Hörer*innen vorzudringen – Gänsehaut mal nicht wegen der Temperaturen und tiefe Glücksmomente. Die Leoniden wagen sich sogar per Crowdsurfing auf die Arme des Publikums, während sie mit unbändiger Energie ihre Indie-Rock-Songs spielen.

Electric Callboy sorgen mit ihrer Mischung aus Metal und Techno für wilde Moshpits, im Zelt tritt mit Conny eine der spannendsten Persönlichkeiten des deutschen Rap-Kosmos auf. Mit messerscharfem Blick, textlich extrem stark und wortgewandt, geht es ihm um Geschlechterrollen, Feminismus, Zerbrechlichkeit, Sehnsucht – damit stellt er einen angenehmen Kontrast zu vielen anderen Acts seines Genres dar. Ebenfalls mit auf der Bühne ist Liser, die kurz zuvor noch solo auf der New Port-Bühne gespielt hat.

Im gesamten Line-Up des diesjährigen Deichbrand Festivals, insbesondere aber am heutigen Samstag, fällt der hohe Anteil deutscher Künstler*innen auf. Highlights der deutschsprachigen Musikszene und angesagte Acts treffen sich an diesem Wochenende nahe der Nordseeküste, die großen, internationalen Namen fehlen in diesem Jahr dagegen. Die Broilers spielen mit Punkrock mit Bläser-Trio einen der stimmungsvollsten Auftritte in diesen Tagen, inklusive „Dancing In The Dark“-Cover. Wilde Sprünge gibt es bei K.I.Z. – inklusive „Rap über Hass“, „Urlaub fürs Gehirn“ und „Filmriss“, die Songtitel des Hip-Hop-Trios fassen den bestens besuchten Auftritt gut zusammen. Pyro-Effekte und Rap-Musik lassen den Tag bei Kontra K langsam ausklingen, während im Palastzelt und auf Electric Island noch bis zum frühen Morgen weitergefeiert wird.

Sonntag: Abreise mit Hindernissen und ein sonniges Ende

Am nächsten Morgen sind die Campingplätze und das Infield kaum noch wiederzuerkennen. Der Dauerregen hat das Gelände in eine Wüste aus Matsch und Schlamm verwandelt. Zu Fuß kommt man nur mühsam voran, auch einige Zelte und Pavillons haben die Nacht nicht überstanden. Die miesen Wetterverhältnisse bewegen viele Besucher*innen zur vorzeitigen Abreise am Sonntagvormittag. Die Wege und Parkplätze sind jedoch kaum befahrbar, Autos, Wohnwagen und Anhänger bleiben stecken und müssen mit Traktoren aus dem Matsch gezogen werden. Diese sind pausenlos im Einsatz, kommen aber bei der starken Abreisewelle kaum hinterher. Ab der Mittagszeit kommt der Verkehr rund um das Festivalgelände deshalb fast vollständig zum Erliegen. Nichts geht mehr bei der Abreise. Fahrzeuge stehen teilweise stundenlang, ohne sich einen Meter zu bewegen. Im Laufe des Nachmittags löst sich die Situation langsam auf, der Dauerregen ist vorbei und der Verkehr rollt nach und nach wieder an.

Das Programm auf den sechs Bühnen geht unterdessen unverändert weiter, nur mit spürbar weniger Menschen davor. Zehntausende sind im Laufe des Sonntags bereits abgereist, viele bleiben aber auch wie geplant noch eine Nacht. Der musikalische Teil beginnt mit instrumentalem Techno-Marsch von Meute aus Hamburg, es folgen Pop-Klänge von Kamrad und tanzbarer, motivierter Alternative-Rock von Royal Republic. Auf der New Port-Bühne treten wie schon seit Donnerstag auch heute vier Newcomer-Acts auf, den Beginn macht Kasi mit einer Mischung aus Pop und Hip-Hop, die live aber nicht so richtig zünden will. Das ist bei Katha Pauer im Anschluss schon anders. Mit deutschsprachigem Indie-Pop und einer Band mit Gitarre, Keyboard und Schlagzeug beweist sie, warum man sie in 1-2 Jahren zu den spannendsten jungen Künstler*innen das Landes zählen wird – wetten?!

The BossHoss passen mit ihrem Country-Rock nicht wirklich ins Bild des Festivals, ziehen aber aufgrund des ungewöhnlichen Bookings und ihrer Bekanntheit viele Leute an. Von Wegen Lisbeth spielen ein gut gelauntes Set auf der Hauptbühne, während Adam Angst gleichzeitig im Palastzelt schon einige Songs seines kommenden Albums präsentiert. Ein absolutes Festivalhighlight sind am Abend Jan Delay & Disko No. 1. – der Hamburger Musiker und seine fantastische Liveband vertreiben die Wolken, die Sonne kommt raus und sie spielen ein hochklassiges, dynamisches, gut gelauntes und abwechslungsreiches Set.

Zwei Headliner-Auftritte hat sich das Deichbrand für den letzten Abend noch aufgespart. Die Beatsteaks entlocken ihren Fans die letzten Kraftreserven und auch Marteria wird nicht müde, selbst die hinteren Reihen zum Springen zu animieren. Wer noch die Kraft dazu hat, könnte auf Electric Island sogar noch bis 2:00 Uhr weiterfeiern. So endet ein Deichbrand Festival, das es unter diesen Bedingungen wohl noch nie gegeben hat dennoch euphorisch und mit einem Lächeln im Gesicht. Traditionell steht das Datum für das Event im folgenden Jahr bereits fest. 2024 findet es vom 18. bis 21. Juli statt. Tickets gibt es bereits im Vorverkauf.

 


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