Kettcar – Der süße Duft der Widersprüchlichkeit

Hamburger Vorzeige-Band veröffentlicht EP „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit" als Komplementärwerk zu "Wir vs. Ich" und damit mehr als eine Ergänzung

Kettcar – Der süße Duft der Widersprüchlichkeit

Schon aus Prinzip. Rein aus Prinzip ist Kettcar herausragend, wichtig und bedeutend. Politisch, gesellschaftlich, emotional aber auch musikalisch war das bislang so. Schlecht oder halbgar gibt und gab es von den Hamburgern nicht. Und das ändert sich auch nicht. Mit „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“ veröffentlicht die Band um Sänger Marcus Wiebusch eine EP, die als Komplementärwerk zum Album „Wir vs. Ich“, das vor eineinhalb Jahren erschien, zu verstehen ist. Es ist allerdings mehr als eine Ergänzung, mehr als nur ein Gegenstück. Es sind fünf Stücke geworden, die zeigen, für welche solidarischen Werte, für welches „Wir“ und welche Grundhaltung gegen rechtsgerichtete Strömungen die Band steht. Es zeigt deutlich das Credo der Band: Humanismus ist nicht verhandelbar.

„Im Schaffensprozess hat sich die EP dann als der dunkle, böse Bruder herausgestellt, der auch zu dem Album gehört. Da sind mit die radikalsten Texte drauf, die ich bisher geschrieben habe“, sagt Marcus Weibisch über die EP im Stern-Interview. Schuld dürfte auch Bassist Reimer Bustorff sein, der auf der EP übrigens mehr Songs geschrieben hat als Wiebusch. 

Großes Storytelling gibt es gleich im Eröffnungssong „Palo Alto“, den die Band als erstes als YouTube-Video veröffentlichte. Verschiedene Digitalisierungsverlierer treffen sich in einem Waschsalon: Ein Kulturjournalist, ein Pornosternchen, ein Plattenhändler und ein Bankangestellter nehmen ihre Plätze ein auf der Liste der aussterbenden Berufsarten. Überall abgemeldet, nur nicht beim Jobcenter. Oder wie es im Refrain heißt: „Und wenn die vom Jobcenter fragen, kannst du ihnen sagen: Wir sind unterwegs mit allem was wir haben, die Algorithmen zu zerschlagen. Und dass die Benzinkanister und Streichhölzer uns gehören – Burn, Palo Alto, burn!“

Eine allgegenwärtige, großartige Abrechnung ist der Song „Scheine in de Graben“. Der Song verhandelt das Thema Menschlichkeit und humanitäre Hilfe mit Blick auf Charity-Events und die heuchlerischen Reichen. Kettcar hinterfragen die Wohltäter und ihre Erhabenheit. Der Song ist radikal, rabiat und rasant:  Im Hintergrund schreit David von FJØRT, die dritte Strophe singt Schorsch Kamerun, und am Ende geben sich beim Refrain Jen von Großstadtgeflüster, Bela B, Jörkk von Love A, Sookee, Felix von Kraftklub, Marie von Neonschwarz, Gisbert zu Knyphausen und Safi die Zeilen in die Hand. So viele unterschiedliche Künstler, die in dieser Zusammenstellung wohl niemand sonst zusammenbekommen hätte. Ein „Wir“ an Musikern, dass hinter der Botschaft des Songs steht. Groß.

„Notiz an mich selbst“ ist klassisch Kettcar: Ein Essay über Kunst und Moral, Potenzial und Ideale – und was davon übrig bleibt, wenn man nicht aufpasst. Ein Beispiel hierfür sind die Zeilen „Egal, jeder fühlt sich schuldig / Waren’s alle, war’s keiner / Und der Wolf im Schafspelz hat den gleichen Schneider“, die in ihrer Bildhaftigkeit, ihrem Assoziationspotenzial und ihrem Kern aus Haltung, Fantasie und Freude an der Sprache einen Ablauf in einem auslösen, den nur große Texte schaffen: Lesen, Hängenbleiben, Nachdenken, erneut Lesen, Einpacken, Immer- mit-sich-herum-Tragen. Nicht das Ausrufezeichen und der Punkt, sondern das Fragezeichen und das offene Ende sind hier das Stilmittel. Hier geht es eben nicht darum, Komplexität zu reduzieren, wie das Journalisten so gerne machen. Die Wirklichkeit wird nicht zugespitzt, sondern aufgeschlitzt.

Vor eineinhalb Jahren sangen Kettcar in „Die Straßen unseres Viertels“: „Der Bio-Supermarkt ist nichts für Schwächlinge“. Und hierhin kehrt die Band in „Natürlich für alle“ zurück und geht eine Runde einkaufen, während auf den Beats-Kopfhörern Adorno schlaue Sätze deklamiert, heißt es im Pressetext von Ingo Neumayer.  Ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, ist eine Frage, über die Kettcar seit ihrer Gründung immer wieder nachdenken. Wie sieht es aus mit der Warenwelt, kritischen Konsum, korrektem kaufen? Und was bringt es? Mit ordentlich Synthie kann der Song gut in den  Indie-Discos gespielt werden. Es zeigt aber auch die zahlreichen musikalische Ansätze der Hamburger.

Den Abschluss der EP bildet „Weit draußen“, und tatsächlich kann danach erst einmal nichts kommen. Reduziert, vorsichtig und sensibel erzählt die Band die Geschichte eines Wiedersehens mit einer alten Freundin, die mit ihrem behinderten Sohn auf Land zieht, um sich den Mitleidsblicken zu entziehen. All die Wut und Scham und Verzweiflung und Verlogenheit einer solchen Situation wird spürbar. Und Zeilen wie „Ich schwör, ich liebe mein Kind / Aber ich hasse mein Leben“ oder „Zeig mir einen Helden / Und ich schreib dir `ne Tragödie“ sind Stoff, der Emotionen aus einem rausprügelt.

 

Kettcar – „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“

01. Palo Alto
02. Scheine in den Graben mit Schorsch Kamerun, Jen Bender, Bela B, Jörkk Mechenbier, Sookee, Felix Brummer, Marie Curry, Gisbert zu Knyphausen, Safi und David Fjørt)
03. Notiz an mich
04. Natürlich für alle
05. Weit draußen

Label: Grand Hotel van Cleef Vertrieb: Indigo
Digital: The Orchard
VÖ Digital: 15.03.2019
VÖ Physisch: 17.05.2019 Format: Digital / 10”


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