Blutleer und menschenleer

Kolumne: Die Bundesliga ist wieder da und Werder Bremen auch. Auf beides hätte man in dem Zustand besser verzichten können. Stattdessen machen wir uns locker.

Achtung Satire – In seiner sehr, sehr unregelmäßigen hb-people-Kolumne beschreibt Kulturmanager und Podcaster Timo von den Berg vom Hensel und Bremen Podcast, die realsatirischen Perlen des Alltags in Bremen und umzu.

Samstag, 15:15 Uhr. Auf Sky laufen gerade die Interviews mit den Trainern. An einem Besenstiel ist ein Handmikrofon befestigt. Der Reporter steht auf der Tribüne, der Übungsleiter auf dem Feld in einem leeren Stadion. Es sieht nicht nur grotesk aus. Es ist grotesk. Eine Gesellschaft kommt gerade zurück zu einer Normalität, die alles andere als normal ist. Die Virologen sprechen schon von der zweiten Welle und die Länder und die DFL öffnen alles was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Hauptsache der Rubel…ehh…das runde Leder rollt. Wie sich das im Herzen anfühlt scheint erst einmal egal zu sein. Anpfiff. Die Sky Konferenz startet. Der Zauber kommt nicht durch. Statt von dem einen zum anderen relevanten Ort mit zehntausenden Zuschauern, werden Trainingsplätze mit aufgeregt redenden Sportkommentatoren eingeblendet. Das fühlt sich schon nach wenigen Minuten alles irgendwie egal an. Besonders pikant sind ein 4:0 der Dortmunder im Revierderby gegen Schalke vor einer gelben Wand, die nicht dabei ist. Die Unromantiker zeigen kaltherzig wie wenig „Echte Liebe“ es eigentlich braucht, um auf der Bundesliga-Bühne zu performen. Besonders gespenstisch wird es dann als zum ersten Mal so etwas wie Freude aufkommt am Samstag Nachmittag. Freiburg, mit der laktosefreien Milch auf der Brust, trifft in der letzten Minute zum Siegtreffer gegen die Jungs vom Plastik-Energiedrink-Giganten. Kurzer Jubel. Entscheidung aus dem Kölner Keller. Doch kein Tor. Alles unecht. Ende. Keine Zuschauer, fünf Wechsel, Videobeweis. Ein Best-of des modernen Fußballs.
Besondere Höhepunkte am Sonntag sind die Spiele der sogenannten Kultklubs. Union Berlin trägt sein erstes Heimspiel gegen den großen FC Bayern, doch keiner darf dabei sein und der Weltpokalsiegerbesieger, in dessen Millerntorstadion es immer so besonders knistert, holt sogar einen Heimsieg. Aber was ist das alles wert ohne Publikum?
Montagabend, 21:00 Uhr, Tor für Werder. Das Nebelhorn ertönt. Ein kurzer Moment der Freude. Fußball ist doch immer noch Fußball, dieser Zauber. Ein warmes Gefühl zieht durch das Wohnzimmer. Ganz egal was alle Unkenrufe wollen, das zwischenzeitliche 1:1 fühlt sich wie ein Ausgleichstreffer gegen die Zweifel an. Wir sind doch da. Mit dem Herzen ist doch ganz Bremen gerade im Stadion. Konzerte werden auch gestreamt, Menschen setzen sich doch auch in Blechbüchsen, um mit viel Abstand und durch Windschutzscheiben Konzerte zu schauen oder betreiben Video-Telefonie. Das ist halt einfach so. Werder trifft. Gebre Selassie. Es geht aufwärts.
Nein. Drei Minuten später. Die zweite Welle ist bereits da. Keine Abwehrkräfte. Der Bayer-Konzern persönlich treibt die Infektionszahlen nach oben: Es steht 1:4. Ende. Vom Gefühl her ist Werder gerade abgestiegen und die Rückkehr der Bundesliga nur noch eine Farce. Das Stadion ist menschenleer. Werder ist blutleer und im Verein verhält man sich dabei weiterhin sorglos. Die Stimmung bleibt gut und der Trainer an Bord. Im Stile eines Gesundheitsministers, der den Ernst der Lage nicht wahrhaben möchte, wird am Kurs festgehalten. Wenn man sich nur ganz doll wünscht, dass alles gut geht, wird es das auch. Eklatante Abwehrfehler, fehlende Ideen und ein offensichtliches Einstellungsproblem, um diese Krise zu bewältigen. Hier und da.
Wir können nur noch „Kurvenhelden“ werden. Es geht um Geld, um das Überleben einer Branche, weniger um das Überleben einer Generation. Inzwischen fühlt es sich an einem lauen Frühlingsabend im Viertel wieder an, wie an einem lauen Frühlingsabend im Viertel. Wir sollten jedoch nicht so sorglos wie die Bremer Abwehr sein, sonst kassieren wir als Gesellschaft mehr als ein 1:4 oder einen Abstieg.


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