Zwei von Vier Tagen Booze Cruise in Hamburg

Pfingsten traten in Hamburg über 70 Bands auf dem Booze Cruise auf. Musik ist auf einem Festival selbstverständlich wichtig. Aber mindestens genauso wichtig ist der Zusammenhalt einer Szene. Beides verband die vierte Auflage des Festivals rund um St. Pauli.

http://www.boozecruise.de/

Hamburg. Tag 1 – Viele Bärte, zumindest bei den Männern, begegnen einem während des Pfingstwochenendes in Hamburg. Ich hingegen bin frisch rasiert. Außerdem scheinen TURBONEGRO bzw. die Turbojugend noch immer angesagt zu sein. Jedenfalls habe ich lange nicht mehr so viele Jeansjacken mit entsprechendem Aufnähern gesehen. Ich habe auch eine an, ohne Aufnäher – natürlich.

Am Freitag spielten bereits u.a. MOBINA GALORE und RED CITY RADIO. Das Festivalbändchen muss im Superfreunde Store abgeholt werden. Dort geben gerade SHORELINE ein Akustikgig, nachdem diese am Tag zuvor bereits ebenfalls performt hatten. Dieser Umstand wird sich das ganze Wochenende durchziehen, kaum eine Band lässt es sich nehmen, nicht mindestens zwei Sets zu spielen. Meine erste Station ist allerdings das Dach von B + S zu Kirsty & Cory Call (dem ehemaligen ARLISS NANCY Frontman mit seiner Frau), deren Stimmen hervorragend harmonieren, vor allem weil Cory seine ansonsten tiefe Reibeisenstimme zu  gunsten einer sanfteren Singstimme zurückstellt. Eine halbe Stunde Country angehauchter Akustikpunk/folk. Die ersten bekannten Gesichter tauchen auf, aber es bleibt keine Zeit. Die nächste Band wartet schon.

Meine Güte, der Weg über die Reeperbahn zum Hafenklang, ich dachte immer, Freunde aus Hamburg übertreiben und sind zu empfindlich, aber was da auf einem Samstagnachmittag abgeht, ist wirklich schrecklich. Da soll noch jemand sagen Punker stehen am Rande der Gesellschaft. Im Punkrock habe ich jedenfalls mehr sympathische Menschen getroffen, als auf der Strecke zum Hafenklang.

MODERN SAINTS, die erste von vielen Reunion Bands auf dem Festival an diesem Tag. Das ist genau die Musik, von der ich komme, die mich in den frühen 20er geformt hat, aus dem Punkrock entstanden und stets diese Dynamik beibehaltend. Aber gleichzeitig von Indie-Rock durchzogen, mit Melodien, die das Herz berühren. Fantastische Band, wusste ich vorher schon, habe ich mir nur noch mal bestätigen lassen.

Und dann sind CHAMBERLAIN nach einem Vierteljahrhundert zurück in Europa. So schön, dass es nicht in Worte zu fassen ist. Gut sehen sie alle aus. Die Stimme ist immer noch fantastisch, auch wenn die hohen Töne mittlerweile vermieden werden. Die Hits werden gespielt (ich überlege seitdem, ob mir ein Song gefehlt hat, kann diese Frage aber nicht beantworten. Ich schätze, das ist ein gutes Zeichen), aber auch neue Songs, so klingt keine Band, die noch mal abkassieren will oder sich noch mal zusammengerauft hat. So klingt nur eine Band, die voll in der Gegenwart steht. Davon zeugen die neuen Songs auf der 7“. Vielleicht sind CHAMBERLAIN die ruhigste Band des Festivals, ganz sicher aber eine der emotionalsten. Abends wird es ein weiteres Set geben, allerdings parallel zu dem Auftritt von AS FRIENDS RUST, dazu später mehr. Inwieweit die Sets identisch waren, kann ich leider nicht sagen. Wäre aber interessant zu wissen.

Nun geht es ins Molotov, wo ich den Rest des Abends bleiben werde. Voll ist es hier, jedenfalls voller als im Hafenklang. DAN WEB sind gerade durch, leider verpasst, aber die spielen ja bald (11. Juni um genau zu sein) im Titus in Bremen. Als nächstes sind LITTLE TEETH dran. Die Band von ex SKY WE SCAPE und ARLISS NANCY Mitgliedern (richtig, erneut Cory Call – der mich trotz diverser Interviews nicht mehr erkennt). Im Gegensatz zum akustischen Set mit seiner Frau am Nachmittag. Im Prinzip verbinden LITTLE TEETH das Beste aus beiden Vorgängerbands. Den T-Shirts der Anwesenden zu urteilen, wurden die alten Fans jedenfalls mit zur neuen Band rüber genommen. Same Same But Different.

THE RUN UP heizen die Skybar dann Vollendens auf. Nun ist es tatsächlich schon an der Zeit sich einen guten Platz unten zu sichern. AS FRIENDS RUST sind zurück (mit der einzigen Europashow!)  und arbeiten an neuem Material (gute Neuigkeiten). Der Bassist hat ein großes Hot Water Music Tattoo auf dem Oberarm. Und plötzlich schließt sich der persönliche Kreis des Lebens. Mein ältester Freund, der mich musikalisch vielleicht mehr geprägt hat als jeder andere Mensch, hatte ein Tape, das wir auf einer langen Autofahrt durch Brandenburg gehört haben. Auf der einen Seite No Division von Hot Water Music, auf der anderen AS FRIENDS RUST. Beide Bands hat besagter Freund, nennen wir ihn Jan, mir näher gebracht. Nun stehe ich hier und sehe AS FRIENDS RUST zum ersten Mal in meinem Leben live, nur einer fehlt. Aber es gibt eine Entschuldigung, die einzige und beste Entschuldigung, die es für sein Fehlen geben kann.

Die lange Abwesenheit der Band macht sich vom ersten Ton an bemerkbar. Noch beim Betreten der Bühne und kurze Stimmen der Instrumente ist es im Publikum ruhig. Nur um mit dem ersten Ton völlig zu explodieren. Von einer Sekunde auf die andere fliegen volle Bierbecher, T-Shirt, ganze (muskulöse) Männer durch die Luft, und verbinden sich bei der Ankunft auf dem Boden zu einem wilden Knäuel. Die Songs werden nicht gesungen, sondern gegrölt. Die Masse drückt immer wieder nach vorne, um den Moment des dargebotenen Mikros abzupassen, um da reinsingen zu können. Manchmal liegt die zweite Reihe huckepack auf der ersten Reihe. Fäuste in der Luft, Schweiß überall. Eine schiere, reine und echte Energie erfüllt den Raum. Wie zuvor schon CHAMBERLAIN, die parallel erneut im Hafenklang spielt, waren AS FRIENDS RUST viel zu lange weg.

Schon ist der erste Tag beendet. Zumindest für mich. AS FRIENDS RUST spielen noch ein weiteres Set in der Skybar, welches Erzählungen nach, aber nicht gut war, weil die Euphorie des Publikums keine Grenzen fand, zu oft die Bühne stürmte und das Set damit vollkommen zerfahren war. Da sitze ich aber schon am Bahnhof und warte auf den zu späten Zug und summe leise vor mich hin: This is the last train and I gonna ride it.

Tag 2 – Läppisch vier Stunden Schlaf später geht der Zug schon wieder von Bremen zurück nach Hamburg. Egal, gestern war schon so toll, heute soll es nicht anders werden. Zunächst zum Bootsanleger der MS TONNE, die Jungs von ARTERIALS, nicht nur eine von vielen Bands von GUNNER REC, sondern auch so was wie BOOZE CRUISE Inventar, ständig läuft man sich über den Weg, sind dran. Die Hits vom sehr guten Debütalbum Constructive Summer werden durchgeballert, aber auch schon zwei neue Stücke präsentiert, die sich nahtlos einfügen und das kurze, aber knackige Set wird mit einem Kid Dynamite Cover abgeschlossen. Am Ende des Tages wird es nämlich von diversen Bands noch Coversets zu hören geben (u.a. Rihanna, Weakerthans und eben Kid Dynamite). Besonders gefreut hat mich der Song Between the gutter and the stars, nicht nur, weil ich das Stück als eins der besten auf dem Album identifiziert habe. Sondern weil es mitverantwortlich für meine letzte USA Reise war. Ich hatte lange hin und her überlegt, ob ich mir das leisten kann, ob ich mir das leisten will (Urlaubstage) und ob die Familie das okay findet (fand sie), und Geld sollte kein Argument sein. Jedenfalls hörte ich eines Tages auf dem Rückweg von der Arbeit dieses Lied: When the road calls, what counts is the answer! Also buchte ich einen Flug und es war gut so.

Schon sind 45 Minuten um. Schnell ins Überquell zu Jared Hart, der einigen als Gitarrist der Brian Fallon Band bekannt sein dürfte, hier nun aber bei seinem ersten Auftritt des Abends Songs aus seinem (mittlerweile recht alten) Soloalbum präsentiert, bevor es später im Goldenen Salon mit MERCY UNION auf die Bühne geht. Außerdem gab der Sänger ein überraschendes Rancid Cover zu Besten. Noch immer hat Jared eine gute Stimme, erinnert mit seinen langen Haaren und dem Flanellhemd an einen Redneck, was er natürlich nicht ist, im Gegenteil.

Die Waden schmerzen mittlerweile von vielem Laufen und unter dem rechten Fuß hat sich eine Blase gebildet, die immer größer wird. Was für ein Glück, dass ich nun im Hafenklang bleiben kann. Zunächst treffe ich noch einen Bekannten, mit dem ich bisher nur Mail- und sporadisch auch mal Phonekontakt hatte. Sehr schön, dieser Zusammenhalt auf dem Booze Cruise und dass man über das Wochenende immer wieder die gleichen Menschen bei den Shows trifft, ist wirklich toll. Wie eine große Familie. Das macht einen Großteil des Vibes in Hamburg aus. Da kann eigentlich spielen wer will, die Stimmung wäre gleich.

Nettigkeit zahlt sich übrigens aus. Am Samstag habe ich mir bei „Lütt & Lecker“ einen Kaffee geholt, Kostenpunkt: 2,50 Euro. Ich hatte 2,42 Euro klein und einen 50 Euro Schein. Die Verkäuferin nahm die 2,42 Euro. Dafür empfehle ich das Geschäft heute einen Freund der Hunger auf ein Fischbrötchen hat. So kann ich mich wenigstens ein wenig revanchieren. Hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht, wenn die Verkäuferin am Vortag mit einer patzigen Geste den Schein genommen und motzig das Wechselgeld rausgerückt hätte.

Einen Teil des Sets von DUCKING PUNCHES bekomme ich noch mit. Es ist die (für mich) insgesamt vierte Band des Festivals, die einen Song für einen (suizidal) verstorbenen Freund geschrieben hat und ihn spielt. Es scheint ein großes Thema in dieser Szene zu sein und das ist nicht richtig! Es gibt Hilfe und die meisten Menschen sind wahrscheinlich nicht so alleine, wie sie glauben, dass sie es sind. Hoffe ich wenigstens. Und der Rest von uns, muss mehr achtgeben. Es ist einfach zu traurig, wenn ein Mensch aus dem Leben geht, weil er oder sie glaubt, keine andere Möglichkeit mehr zu haben. Es kann immer irgendwie weiter gehen. Das sage ich, dem solche Gedanken nicht ganz fremd sind. Puh, genug davon.

NOT SCIENTEST sind nun zu dritt (statt zu viert) und das tut der Band verdammt gut. Noch im Januar habe ich ihren Auftritt im Bremer Lagerhaus ( vor Pascow) als gelangweilt und lustlos bezeichnet. An diesem Abend ist alles anderes. Kurz muss ich gar überlegen, ob ich mich nicht vielleicht getäuscht habe und eine ganz andere Band sehen (tue ich nicht). Das ganze Set ist im Vergleich zum Bremenauftritt weniger „Emo“-lastig, dafür deutlich Punkrock orientierter und dadurch druckvoller und einfach besser.

Auch die darauffolgenden ROWAN OAK hatte ich anderes in Erinnerung, ebenfalls deutlich mehr Richtung Mid-West Emo verordnet. Ansätze davon sind noch immer zu hören, aber der Sound wurde ganz sicher erweitert und alles klingt etwas verspielter, vielleicht gar poppiger, jedenfalls runder. Als Kontrast steht dazu Flo’s (auch bei Arterials) raue Stimme. Derweil spielen PETRO GIRLS im Molotov, was natürlich eine harte Konkurrenz ist.

Direkt nach dem Set geht es ein Stockwerk höher. MERCY UNION spielen im Soundcheck das Eröffnungsriff vom Hold Steady Song: Stay Positiv – schon steigt die Laune ins unermessliche. Was für ein Song. Aber auch MERCY UNION beweisen, dass sie große Songschreiber sind. Einem Freund schreibe ich, „sowie Brian Fallon nie mehr klingen wird“ und ich finde, damit habe ich durchaus recht. Stimmung, Riffs, Chöre, das Vorbild bzw. die Inspiration sind klar rauszuhören, allerdings wird das mit einer Dynamik und Leichtigkeit vorgetragen, die ich lange nicht mehr bei einer doch jungen Band erleben durfte. Sogar CHAMBERLAIN schauen sich das kurzzeitig das Set an.

Und dann ist das Booze Cruise Festival 2018 für mich schon vorbei. Höhepunkte gab es viele, hier sind nur ein paar persönliche Highlights genannt. Nur eine lange Zugfahrt zurück nach Bremen trennt mich von meinem Bett. Bremen: Tut euch einen Gefallen und reserviert den 12. Juni bis 14. Juni 2020 in euren Kalendern, für die fünfte Ausgabe des Festivals.


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