Wohin mit dem Hass?

Meine Güte, neue Seite, das Jahr noch nicht mal ein Tag alt und schon wird rumgemeckert und gepöbelt! Warum nicht? Macht manchmal Spaß und muss manchmal auch einfach raus.

CR

Einfach mal die Fresse halten! Das musste schon lange mal raus. Weil ich nicht möchte, dass eine selbst ernannte Bürgerinitiative (Leben im Viertel) in meinem Namen spricht. Ich will überhaupt nicht, dass irgendjemand in meinen Namen spricht, auch nicht irgendwelche Szenewächter, die meinen, das Viertel müsste so oder so sein. Es leben ca. 20.000 Menschen in diesem Stadtteil. Und sicherlich wird es ebenso viele Meinungen geben, wie ein wünschenswertes Viertel aussieht. Nur diskutieren die meisten eben nicht öffentlich darüber, sondern lassen den Dingen ihren Lauf. Das muss nicht schlecht sein. Seien wir doch mal ehrlich, der gemeine Viertelbewohner, ist dem gewöhnlichen Schwachhausener ähnlicher, als er/sie es eigentlich möchte – beide pflegen ein Weltbild, in dem für wenig, als die eigene Weltansicht, Platz herrscht. Auf ihrer Weise ist bei vielen Viertelbewohnern, die sich ja gerne mal etwas auf ihr „Anderssein“ einbilden, Intoleranz genauso groß, wie andernorts. Nur nicht gegen Minderheiten, sondern an Mehrheiten gerichtet. Am Ende bleibt Intoleranz aber Intoleranz, egal an wen sie sich richtet.

Da wird von der sogenannten Bürgerinitiative Außengastronomie, Drogenhandel, Billigläden und die vielen Dönerbuden bemängelt. Andere (meist junge oder in der Subkultur verankerte) sehen Geschäfte, wie Grillboutique, Kauf dich Glücklich oder Montessorikindergärten, als Kern allen Übels und der schleichenden Gentrifizierung. Vielleicht haben beide Seiten recht, vielleicht auch keine. Menschen, Kulturen und vor allem der Zeitgeist verändern sich unaufhörlich. Wem das nicht (mehr) passt, muss sich eben etwas Neues suchen. Sich an Altbewährtem festzuklammern, wird auf langer Sicht nicht funktionieren. Das gilt für die große Weltpolitik genauso, wie für jeden einzelnen Bürger. Es wird sicherlich auch in anderen Stadtteilen über die Entwicklung diskutiert, nur machen die Bewohner daraus nicht so ein große Brimborium. Vielleicht sollten sich alle, nicht so wichtig nehmen!  Abgesehen davon geht es den meisten, der im Viertel lebenden Menschen, sehr (sehr) gut und sie leben gerne hier und pflegen, auch wenn viele anderer Meinung sein werden, ein gewisses angepasstes Bürgertum. Trotz Drogenhandels, den es gerade im Viertel, schon immer gab. Selbst wenn eine deutliche Zunahme in den letzten Monaten zu verzeichnen war, ist es kein Vergleich zu vergangenen Zeiten, als Familienväter an der Sielwallkreuzung die Autotüren und –fenster vor Angst schlossen. Legalisierung von weichen Drogen könnte der wirksamste Weg sein, den Drogenhandel maßgeblich einzudämmen.  Aber das ist ein anderes Thema.

Natürlich hängen die Menschen gerne draußen rum. Es gibt gefühlt zehn Tage mit über 25 Grad im Jahr. Die restliche Zeit regnet es oder der Himmel ist grau (überspitzt ausgedrückt). Dass es dann mal schön ist, draußen zu sitzen, ist doch klar. Wird dann eben manchmal auch lauter. Die Mittagspause oder den Feierabend mal eben im Café auf dem Bürgersteig genießen? Warum nicht!? Jeder auswärtige Besucher des Viertels genießt und lobt gerade diese Atmosphäre (und trägt damit zu dem guten Ruf und damit verbundenen steigenden Immobilienpreise bei). Gerade Deutsche schauen öfters mal bewundernd, manchmal auch neidisch, auf eine gewisse (vermeintliche?) südländische Lebenslust. Aber vor der eigenen Haustür soll diese dann bitte nicht stattfinden? Ist das nicht etwas heuchlerisch? Meistens spielt sich die sogenannte Außengastronomie eh auf den Hauptstraßen Vor dem Steintor und Ostertorsteinweg ab. Dabei zieht besonders die Außengastronomie vorwiegend ein einkommensstarken Klientel an, was dann eben auch mit entsprechender Rücksichtnahme verbunden ist. Den Rest zieht es zum Osterdeich und besonders laut ist es dort im Sommer nicht. Über wie viele Tage im Jahr sprechen wir hier überhaupt, an denen es mal wirklich laut wird? Gestern war zumindest so ein Tag. Immer war es der letzte im Jahr.

Bleibt noch die Frage, nach den Billigläden bzw. dem Fernbleiben von hochwertigem Einzelhandel: Selbst gemachtes Leiden! Bei der Anzahl an DHL und DPD Fahrzeugen, die jeden Tag durchs Viertel fahren und den Paketen, die bei der Post an der Berliner Straße abgeholt werden, weiß ich, wo gekauft wird. Eben nicht (mehr) in den Geschäften um die Ecke, sondern bei Amazon und/oder Zalando. (Deswegen fühlt es sich gut an, behaupten zu können, dass ich, bis auf eine Ausnahme, dieses Jahr alle Weihnachtsgeschenke beim lokalen Einzelhandel gekauft habe und das meiste davon noch nicht mal bei den (kleineren) Ketten). Wenn Einzelhandel im Viertel wieder mehr genutzt werden würde, würden vielleicht auch andere Geschäfte als 1 EUR Shops, Telefonkartenläden oder Dönerläden aufmachen. Jeder sollte sein eigenes Kaufverhalten einmal überdenken, der solche Forderungen stellt.

Und wenn wir schon bei Forderungen sind! Wie angepasst und konservativ ist eigentlich die Subkultur, wenn von der Stadt (also indirekt vom Staat) Räume gefordert werden, um eine kulturelle Vielfalt zu gewährleisten? Subkultur sollte immer etwas Subversives haben, aus einem Aufbegehren entstehen und auf den Staat scheißen! Es fehlen Räume? Dann holt sie Euch! Ihr wollt Kunst machen, Musik, Schreiben, Läden gründen? Dann macht es einfach. Ihr wollt draußen feiern und dafür sollen Gesetzte erlassen werden? Was sollen das denn bitte für Partys werden? Wenn es, aus welchen Gründen auch immer, im Viertel nicht geht – geht woanders hin. Rock’n’Roll sollte nie ein Ölgemälde, nie in Stein gemeißelt sein. Orte sind ein flüchtiger Moment und Kunst kann überall entstehen. Eine Momentaufnahme, wie ein Foto (ein Snapshot), an diesem Ort, zu dieser Zeit aufgenommen und schon bald wieder verblasst. Es kommt immer etwas Neues. Sich Veränderungen zu widersetzen, gar dagegen an zuarbeiten, ist Zeichen von satter Zufriedenheit. Nichts mehr und nicht weniger. Es fällt natürlich schwer, sich das einzugestehen.

Eingangs aufgeführter Satz stammt übrigens aus dem sehr guten L’age D’or Sampler Musik für junge Leute, und geht noch weiter: Ab und zu einfach mal die Fresse halten und gute Musik hören, z.B. von den Pet Shop Boys oder Dackelblut. Wenn das Mal nicht hervorragend die Gegensätze, die auch im Viertel herrschen widerspiegelt. Einfach weniger (sinnlos) labern und mehr machen. Deswegen gehe ich jetzt auch Musik hören.

 

 


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