„Sünde, Lust und Langeweile“ – Milliarden im Interview

Bevor Milliarden in wenigen Wochen ihre Tour im Bremer Schlachthof starten, haben wir sie für ein Interview getroffen.

Milliarden mit unseren Redakteuren Malte und Marcel

Bremen/Salzwedel. Der Festivalsommer ist praktisch vorbei und die Monate der Club- und Hallenkonzerte stehen vor der Tür. Als eine der ersten Bands kommen Milliarden aus Berlin am 26. September in den Schlachthof. Wir haben die großartigen Live-Qualitäten der Band in den letzten Wochen dreimal erlebt und uns natürlich schon längst Tickets für die Show gesichert. Auf dem Forest Jump Festival bei Salzwedel haben wir Milliarden zum Interview getroffen und mit ihnen ausführlich über Entwicklungen in Berlin und Erinnerungen an Bremen gesprochen.

Heute endet euer Festivalsommer, der vor fast genau drei Monaten im großen Rahmen bei Rock am Ring gestartet ist, kleiner und persönlicher mit einer Headliner-Show. Was hat euch diesen Sommer besonders beeindruckt?

Ben: Die Konzerte rauschen so durch uns und es ist schwer zu trennen, was wann wo passiert ist. Wenn wir vor vielen Menschen stehen, gibt es oft ganz besondere, einzelne Situationen in Liedern. In sehr guter Erinnerung haben wir das Deichbrand, da es im randvollen Zelt besonders viel Spaß gemacht hat.

Johannes: Das Zelt hat nochmal eine andere Akustik gegeben, vor Tausenden von Leuten wird jedes Wort doppelt verstärkt. Das hat schon richtig Bock auf die Clubshows gemacht. Es ist eng, nichts verfliegt und dahinter steckt richtig Power.

Was hat sich in diesem Festivalsommer mit dem neuen Album für euch verändert?

Ben: Unsere Reisegruppe ist größer geworden. Am Anfang haben wir wie jede Band alles selber gemacht, jetzt haben wir unter anderem unseren Backliner Tilman und unseren Lichtmann Norman dabei. Die Gruppe wächst und wir spielen nicht nur ein Album, sondern die Auswahl an Songs ist größer.

Direkt vor der Festivalsaison ist am 1. Juni euer zweites Album „Berlin“ erschienen. Gibt es einen Song daraus, den ihr live besonders gerne spielt?

Johannes: Vor allen sind es die schnellen Songs wie „Berlin“ oder „Rosemarie“. Außerdem spiele ich „Milliarden Milliarden“, „Baukran“ und „JaJaJa“ sehr gerne. Darauf haben wir uns schon im Schreibprozess und bei der Produktion gefreut.

Ben: Die ruhigen Songs spielen wir auf Festivals weniger, das machen wir lieber auf der anschließenden Clubtour.

Der Titeltrack von „Berlin“ beschreibt die alten Zeiten der Hauptstadt, als es vielleicht etwas dreckiger und freier war. Hat sich denn wirklich so viel getan in den letzten Jahren?

Ben: Der Song beschreibt einen Sehnsuchtsort, wie ich ihn als Teenie noch kennengelernt habe. Als ich mit etwa zwölf Jahren angefangen habe, mich selber in der Stadt zu bewegen und sie zu erkunden, war Berlin noch ein Ort mit vielen Freiflächen, Rissen, besetzten Häusern und Kunstflächen. Mit den damit verbundenen Biographien und Menschen in der Stadt sind wir aufgewachsen und das verschwindet immer stärker. Es wird zurückgedrängt zugunsten einer bestimmten Homogenität, Architektur und Optik – einer grundlegenden, durchkalkulierten, marktwirtschaftlichen Langeweile. Ich bin so streng, weil ich merke und ausblute, wie viel wegfällt und wie Menschen sich verändern.

Johannes: Viele Künstler suchen sich Rückzugsorte auf dem Land um zu entfliehen und versuchen, sich dort etwas aufzubauen.

Bei dem Thema seid ihr sehr emotional. Gibt es einen persönlichen Lieblingsort, an dem ihr früher gerne wart und der jetzt verschwunden ist?

Findan: Es gibt inzwischen ganze Stadtteile,  die man nicht mehr mit dem gleichen Vorhaben betritt wie früher. Im Prenzlauer Berg beispielsweise gibt es keine Drum&Bass-Clubs mehr, da dort jetzt in gediegenen Bars auf chic gemacht wird. Das ist die eine Sache und dann gibt es Orte wie das frühere Tacheles, wo Ben und ich schon mit unseren ersten Bands aufgetreten sind.

Ben: Es war ein riesiges Kunsthaus und ein Zentrum für mich. Früher gab es viele besetzte Häuser und linke Projekte, die inzwischen immer kleiner oder ganz verdrängt werden, während die Polizei immer stärker wird. Es ist ein anderes Leben geworden, überall gibt es Mietverträge und der Zugriff des Systems ist sehr stark und rigoros. Ein freies Umgestalten von eigenen Lebensräumen gibt es faktisch nicht mehr. Sofort erhebt jemand rechtlichen Anspruch darauf. Die ganze Stadt ist durchstrukturiert. Das tut weh!

Welche drei Dinge sind heute für euch typisch „Berlin“?

Ben: Wir haben kein Konzeptalbum über Berlin gemacht, daher ist es ganz schwer zu sagen. Unsere Lieder fühlen sich für uns wie die DNA einer Stadt an. Deshalb haben wir auch diesen ausgelutschten, abgerittenen Werbenamen als Titel genommen, obwohl wir damit natürlich Leute verprellen, die den Hintergrund nicht kennen. Wir wollen ihn wiederbeleben und für uns zurückerobern. Das Gefühl ist sehr komplex und es ist schwierig, dafür drei Worte zu finden. Für mich wären das Sünde, Lust und Langeweile.

Seit drei Monaten ist euer zweites Album auf dem Markt, wie beschreibt ihr die musikalische Entwicklung im Vergleich zum Debüt?

Johannes: Ich finde es klarer und persönlicher. Zur musikalischen Entwicklung kann ich wenig sagen. Wir machen immer, was sich gerade richtig anfühlt, ohne uns vorher etwas vorzunehmen. Es passiert einfach im jeweiligen Moment.

Generell seid ihr emotionaler geworden. Die lauten Songs sind meist noch lauter, die leisen Stücke dafür noch ruhiger. Ist die Angst, Gefühle zu zeigen nach einem Abtasten im ersten Album geringer geworden?

Ben: Bei den ruhigen Songs sind es Gefühle, die zu einer bestimmten Zeit stark stattfinden. Die Lieder schreibt man in ein bis zwei Nächten und dann ist es so passiert. Es ist wie Senkblei, wenn Lieder von Abtreibung handeln und man sich damit gefühlsmäßig selber abtreibt. Ähnlich ist es bei der starken Sehnsucht nach einem Menschen, den man vor langer Zeit verloren hat. Es sind Songs, deren Inhalte wir erleben, wir sind keine fiktionale Gruppe.

Die meisten Songs vom neuen Album sind eingängig, der Refrain lässt sich schon nach dem ersten Hören mitsingen. Dabei werdet ihr häufig als Punkband angesehen. Nutzt Punk durch die Massentauglichkeit nicht ab?

Ben: Es  ist stark abhängig davon, über welche Generation von Punk und über welche Art von Musik wir sprechen. Punk ist oft sehr einfach und lebt grundlegend von der Energie. Es sind die einfachsten Zitate wie „Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland“ von der Terrorgruppe oder die Songs der goldenen Zitronen, die sofort hängen bleiben. Punk ist für mich ein Gefühl und nicht komplex.

Am 26. September startet eure Tour wie schon beim letzten Mal in Bremen. Warum findet der Auftakt immer hier statt?

Johannes: Unser guter Freund Olli veranstaltet unsere Shows in Bremen, wir haben schon oft bei ihm im Tower gespielt. Diesmal treten wir sogar im Schlachthof auf.

Ben: Bremen ist eine Stadt mit geilen Menschen, die Nordleute sind immer super. Wir kommen da gut klar, es ist ideal zum Aufschlagen. Das Publikum ist nicht überschwänglich, ehrlich und immer freundlich. Hinterher wissen wir genau, was schon gut und was noch scheiße an unserer Show ist.

Die Tour trägt den Titel „Welt im Blech“, was wollt ihr damit aussagen?

Ben: Auf dem Albumcover von „Berlin“ ist ein altes Auto zu sehen, das verschrottet wurde. Vorher haben wir den ganzen Lack zerkratzt und es fotografiert. In dieses Blech haben wir unsere eigene Welt geritzt.

Ihr habt schon häufig im Tower gespielt, zweimal auf der Breminale und als Support sogar im Aladin. Jetzt seid ihr im Schlachthof. Was habt ihr in Bremen immer auf dem Plan?

Ben: Wir verbringen Zeit mit verschiedenen Menschen wie Olli, Tjado und Thomas. Außerdem sind wir gerne im Malenchen im Viertel. Wir verbinden viel mit Bremen, für Milliarden ist es eine super Stadt. Wir kommen immer gerne, zumal wir einige Nordlichter im Team haben und da oben einfach ein guter Spirit ist.

Hier findet ihr unsere Fotos vom Milliarden-Aufritt beim Forest Jump Festival und hier den Festivalbericht.

Tickets für das Konzert am 26. September im Kulturzentrum Schlachthof gibt es im Vorverkauf.

 


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