9 Fragen an Kirsten Kappert-Gonther

Wir sprachen mit den Direktkandidaten des Wahlbezirks Bremen I. Dabei stellten wir stets dieselben Fragen, um ein Möglichst einheitliches Bild der Kandidaten, ihrer Parteien und ihrer Positionen zu zeichnen. Hier sind die Antworten von Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen.

Wie muss die Politik auf eine schleichende Entdemokratisierung in Europa reagieren, um das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen zu stärken?

Europa ist nicht nur das größte Friedens-, sondern auch das größte Bildungsprojekt der Nachkriegszeit. Das direkt gewählte Europäische Parlament muss der zentrale Ort aller europäischen Entscheidungen werden und das Recht erhalten, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen. Für eine direktere Einbindung der Bürger*innen müssen bestehende Hürden für Europäische Bürger*inneninitiativen abgebaut werden. Nicht zuletzt muss der „Lobbyfußabdruck“ bei Gesetzesvorhaben sichtbar werden. Es braucht ein verpflichtendes Lobbyregister, damit sichtbar wird, wer mit welchem Budget in wessen Auftrag und zu welchem Thema Einfluss auf die Politik nimmt.

Der „Dieselskandal“ überschattet diese Phase des Wahlkampfs. Dennoch soll keine E-Auto-Quote (wie in China) kommen. Muss der Wirtschaft nicht im Allgemeinen viel mehr Vorgaben von der Politik gemacht werden, wenn die Unternehmen selber keine oder zu wenig Fortschritte vorweisen kann?

Die Dieselskandale zeigen, dass Gesundheits- und Klimaschutz entscheidende politische Zukunftsaufgaben sind. Wirtschaftspolitik muss ehrgeizige Vorgaben z.B. in Form von Grenzwerten, CO2-Reduktionszielen und Produktstandards formulieren, die in realistischen Zeiträumen erreicht werden können. Das schafft für die Unternehmen Planungssicherheit und gibt Impulse für Investitionen. Auch in anderen Bereichen wie Gleichberechtigung, Barrierefreiheit und Datenschutz gilt es, ambitionierte und gleichzeitig realistische Vorgaben für Unternehmen zu schaffen, deren Umsetzung durch unabhängige Institutionen kontrolliert wird.

Medial in den Hintergrund gerutscht ist die Energiewende. Können und werden die gesteckten Ziele eingehalten, ohne weitere Belastungen für die privaten Haushalte?

Seit vier Jahren bremst und deckelt die Große Koalition den Ausbau erneuerbarer Energien, wo sie nur kann. Sie zerstört die Dynamik der Energiewende – so erreicht Deutschland seine Klimaschutzziele nicht. Doch die Energiewende ist weiterhin möglich: in Deutschland haben wir die Technik, die Fähigkeiten und den Willen der Bürger*innen. Entsprechend lautet unser Ziel: 100 Prozent Ökostrom bis 2030. Statt weiterer Belastungen für private Haushalte sollen auch Mieter*innen von den Vorteilen einer klimafreundlichen und kostengünstigen Energieversorgung profitieren. Dazu ersetzen wir das jetzige Bürokratiemonster durch einfache und handhabbare Strommodelle und führen die milliardenschweren Strompreisrabatte für die Industrie auf ein Minimum zurück.

Wie wollen Sie und Ihre Partei, die hier lebenden und wahlberechtigten türkisch-stämmigen Mitbürger für Ihre Partei begeistern und wie soll die zukünftige Türkeipolitik aussehen?

Wir Grüne stehen fest an der Seite derjenigen, die in der Türkei für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit eintreten. Angesichts der von Erdogan eingeschlagenen Politik hin zu einem autoritären Präsidialsystem braucht es allerdings eine grundlegende Neuvermessung der europäisch-türkischen Beziehungen. Mehr denn je müssen Deutschland und Europa klare Kante für Demokratie und Menschenrechte zeigen. Darum werden wir deutsche Rüstungsexporte in die Türkei stoppen. Politisch Verfolgte sollen in der EU Zuflucht finden und der Visumszwang abgeschafft werden. Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst geben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Das gilt auch für die Fortführung der Beitrittsgespräche, die de facto bereits auf Eis liegen.

Brexit: Reisende soll man nicht aufhalten – oder ist Großbritannien doch wichtig für Deutschland und Europa?

Die Bürger*innen Großbritanniens gehören für uns zu Europa. Dem Wunsch der Schott*innen und Nordir*innen wie auch der vielen Menschen im Vereinigten Königreich, die in der EU bleiben wollen, begegnen wir mit Offenheit und Sympathie. Deshalb gilt: Unsere Tür bleibt offen. Nichtsdestotrotz genießen der Zusammenhalt der EU 27 und die Interessen ihrer Mitgliedsstaaten bei den Brexit-Verhandlungen oberste Priorität. Es darf deswegen keinen „Austritt à la carte“ geben. Ein freier Zugang zum EU-Binnenmarkt darf wie bisher nur möglich sein, wenn die Einheitlichkeit des Europarechts, die Rechtssetzung und Jurisdiktion der Gemeinschaftsorgane und die Geltung aller vier Grundfreiheiten, insbesondere der Personenfreizügigkeit, gewahrt bleiben.

Scheitert der Generationsvertrag und braucht Deutschland eine tiefgreifende Rentenreform – und wie könnte diese aussehen?

Wer heute nur wenig verdient, bekommt später vielleicht nur eine sehr kleine Rente. Es ist daher notwendig, das Rentenniveau zu stabilisieren: Beiträge und ausgezahlte Leistungen müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Altersarmut ist immer noch weichlich. Darum kämpfen wir für gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir Grüne streiten zudem für die Einführung einer Garantierente, die allen Menschen ein Mindestniveau an Rente zusichert. Mittelfristig braucht Deutschland hingegen ein solidarischeres Versicherungssystem. So streiten wir Grüne für eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger*innen unter Berücksichtigung aller Einkunftsarten einbezogen werden. So sind sie gut abgesichert und versorgt und beteiligen sich entsprechend ihres Einkommens an der Finanzierung.

Die Auswirkungen der so genannten Flüchtlingskrise sind noch immer zu spüren. Wie kann eine nachhaltige Integration der Menschen gelingen?

Integration ist die Aufgabe von uns allen. Jeden Tag leisten viele Haupt- und Ehrenamtliche Großartiges. Dieses Engagement muss unterstützt werden durch mehr professionelle Hilfe im Bereich psychosozialer Betreuung von Geflüchteten. Wir wollen den Menschen das Ankommen erleichtern und ihnen unabhängig von Nationalität und vermeintlicher Bleibeperspektive das Recht auf einen Integrationskurs geben. Gut ausgestatte Integrationskurse mit angemessen bezahlten Kursleiter*innen müssen begleitet werden von einer möglichst dezentralen Unterbringung und dem Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe, Bildung und Ausbildung sowie arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Ausländerbehörde, Jobcenter bzw. die Bundesagentur für Arbeit und das Sozialamt sollen die Neuankommenden aus einer Hand beraten.

Was ist für Sie und Ihrer Partei das wichtigste Vorhaben der nächsten vier Jahre?

Wir Grüne stellen die Umwelt und den Erhalt unserer Lebensgrundlage in das Zentrum unserer Politik. An erster Stelle steht für uns somit der Umwelt- und Klimaschutz. In den nächsten vier Jahren wollen wir ein Klimaschutzgesetz beschließen, das notwendige Reduktionsziele verbindlich festlegt und Ziele für alle relevanten Sektoren definiert: Stromerzeugung, Verkehr, Landwirtschaft, Industrie und Gebäudeenergie. Zudem wollen wir den EU-Emissionshandel reformieren, damit die Kosten für den Ausstoß von Klimagasen von denjenigen getragen werden, die sie verursachen. Nicht zuletzt werden wir die 20 dreckigsten Kohlekraftwerke unverzüglich vom Netz nehmen und den CO2-Ausstoß der verbleibenden Kohlekraftwerke analog zu den Klimazielen deckeln.

Was möchten Sie für Bremen (und wie) in den nächsten vier Jahren erreichen?

Ich werde mich für den Forschungs- und Entwicklungsstandort Bremen stark machen. Verlässliche Rahmenbedingungen für die Windkraft sind notwendig zur Erreichung der Klimaziele und entscheidend für Bremerhaven. Bremen soll nicht nur Fahrrad-, sondern auch E-Mobilitätshauptstadt werden. Ich kämpfe für eine gute Krankenhausfinanzierung und bessere Bedingungen in der Pflege – für die Pflegenden und die Pflegebedürftigen. In den Bereichen Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und Betreuung gibt Bremen bundesweit kein gutes Bild ab –hier muss dringend etwas passieren. Im Bundestag werde ich mich für ein großes Reformpaket einsetzen, um Kinderarmut zu bekämpfen, Familien finanziell zu entlasten und die Unterstützung von Alleinerziehenden deutlich zu verbessern. Wir Grüne wollen damit in die Entwicklung lebenswerter Quartiere, in Kindertagesstätten, Schulen, Stadtbüchereien, Jugendzentren und bezahlbare Wohnungen investieren – all das sind Orte, auf die Menschen mit wenig Geld besonders angewiesen sind, von deren guter Ausstattung aber die gesamte Gesellschaft profitiert.

 

 


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